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Das verschneite Dorf

Dicke Schneeflocken fielen hinab auf die Erde und das Eis, dass die drei Seen, auch drei Augen genannt, überzogen hatte. Der Winter war früh in diesem Jahr über den Norden gekommen und so auch über das Dorf Hestar. Früher einmal, war es eine große Gemeinde gewesen und hatte vom Fischfang gelebt. Doch heute war es nicht mehr als eine Ansammlung von Häusern, umgeben von einer viel gewaltigeren Anzahl an Ruinen, die für niemanden mehr ein Zuhause waren.
Die Menschen waren in den Süden gezogen, als die Winter härter wurden und die Fische weniger. Nur noch wenige waren geblieben, die dem Leben hier etwas abgewinnen konnten und man konnte es ihnen nicht verübeln.
Dieses kleine Dorf war der letzte Flecken Zivilisation für viele Meilen gen Norden und noch ahnte niemand, was sich hier ereilen würde.

»Ich gehe Spielen«, rief Maggie in das Halbdunkel der Wohnstube hinter sich.
»Ist gut, aber pass auf dich auf und komm ja zurück, wenn es dunkel wird«, hörte sie ihre Mutter rufen. Ihr Vater grunzte noch etwas, doch da hatte sie die Tür bereits geschlossen und hüpfte die schmale Treppe zu den Verkaufsräumen hinunter. Fenster oder gar eine Lampe gab es hier nicht und sie brauchte auch keine. Schon tausende Male war sie die genagelten Bretter hinauf und wieder hinab gestiegen.
Der Laden selbst lag in einem unheimlichen Zwielicht. Durch die geschlossenen Fensterläden sickerte das wenige Sonnenlicht, das sich zu der dunklen Jahreszeit bis zu ihnen durchkämpfte.
Es war der Tag der güldenen Mutter und niemand arbeitete, vielleicht abgesehen vom alten Marduk in seinem Gasthaus, doch ihr Vater sagte immer, dass er viel lieber in den Hahn schaute, als andere zu bedienen, was auch immer das bedeuten mochte.
Das Glöckchen klingelte, als sie durch die Tür nach draußen schlüpfte. Sofort kroch die Kälte ihr unter die Kleidung. Maggie zog ihren Mantel enger und wippte hin und her, bis es erträglich wurde. Erst viel später im Jahr, wenn die Sonne zu schwach sein würde, um sich weit über den Horizont zu heben, würde der eisige Hauch ihr Dorf fest im Griff haben und niemand würde dann mehr nach draußen gehen, wenn er es nicht musste.
Maggie sprang über die zugefrorenen Steine zur einzigen Straße. Im Frühling und Sommer, wenn das Eis vertrieben wurde, war der Boden hier weich und matschig, weshalb die Erbauer des Dorfes die Häuser auf Stelzen errichtet hatten, und die Steine dienten den Bewohnern als Möglichkeit, trockenen Fußes nach Hause zu gelangen.
Sie drehte sich im Kreis. Wo sollte sie hingehen? Zum alten Doktor? Nein, der hielt sich immer so den Rücken und würde nicht mit ihr spielen können. Zu Marduk? Kurz machte sie einen Schritt auf das lange Haus zu, in dem der Wirt mit seiner Frau wohnte und in dem gleichzeitig auch das Gasthaus untergebracht war, zögerte dann jedoch. Sie hatte keine Lust wieder Gläserwaschen zu spielen. Nicht das sie schlecht darin war, sie schaffte es immer wieder Marduk zu besiegen, doch ihr stand heute einfach der Sinn mehr nach Abenteuer.
»Ich hab’s.« Sie schnippte mit den Fingern und sah ihren kleinen roten Lederball an, den ihre Eltern ihr zu ihrem Geburtstag geschenkt hatten. Heute erklimme ich den Berg, dachte sie Ihr Vater sagte ihr zwar immer wieder, dass es kein Berg sei, sondern nur eine Landzunge, die in den See hineinreichte, doch das war ihr egal, genauso wie die Warnung ihrer Mutter, niemals alleine dort hinaufzusteigen.
Mit federnden Schritten hüpfte sie den Weg gen Norden aus dem Dorf hinaus, links und rechts von ihr lagen zwei der Seen in je gut hundert Schritt Entfernung. Die ansteigende Landzunge führte weit in den östlichen See hinein, soweit, dass sie vom Fuß aus gar nicht erkennen konnte, wo sich das Kloster einst befand und nun nur noch die Ruinen lagen.
Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken und ihr Nackenhaare richteten sich auf. Wurde sie beobachtet?
»Wer ist da?« Niemand antwortete ihr. »Mama, bist du es?« Die Stille wurde bedrückend und schien selbst ihren Atem zu verschlucken. Ein Knacken zerriss die Stille.
Maggie drehte sich um, ein Schrei entfuhr ihr und … nichts, vor ihr lag das Land bis zum Boden karg da. Die wenigen Büsche, die die Straße und das Ufer säumten, hatten ihr Blattwerk verloren.
Vielleicht ist ein Ast abgebrochen, dachte sie sich. Die Angst war wie weggeblasen und auf einmal kam sie sich lächerlich vor.
»Ich lass mir keine Angst einjagen«, sagte sie so laut sie konnte in die Einsamkeit hinein. Dann stapfte sie los, wie nur Kinder stapfen können, beide Hände fest in den Ball gekrallt.
Der Weg hinauf zur Ruine war weit und während sich die Sonne immer weiter gen Horizont neigte, hallten in ihrem Kopf immer wieder die Worte ihrer Mutter, dass sie vor der Dunkelheit zu Hause sein sollte. Doch warum eigentlich? Sie kannte den Boden hier genauso gut, wie den im Laden. Ihr würde schon nichts passieren. Noch einmal blickte sie hinunter ins Dorf, dann verbannte sie auch den letzten Gedanken an die Umkehr. Jetzt war Zeit für ein Abenteuer. Sie ahnte nicht, dass sie ihrem Untergang direkt in die Arme lief.

Schweigend gingen die beiden Gestalten nebeneinanderher. Ein altes Maultier samt Wagen folgte ihnen. Frederick vom Stein klapperten die Zähne. Verdammtes Eis, dachte er. Er hatte sich schon oft gefragt, warum er diese Reise eigentlich unternommen hatte, doch immer, wenn er nach hinten schielte und die beschlagenen Truhen auf dem Karren liegen sah, trat wieder dieser Glanz in seine Augen. Was in den Büchern, die sie gefunden hatten, wohl alles an Wissen schlummern mochte?
»Vergesst es«, sagte Bruder Timon, sein hochgewachsener Begleiter, mit Händen wie Bratpfannen und einem Gesicht, als hätten eben solche hunderte Male dort hineingeschlagen. Frederick verzog das Gesicht und seine Stimmung verdüsterte sich. Es war einfach nicht gerecht, dass er das verborgene und verlorene Wissen zwar suchen, aber nicht erforschen durfte. »Ihr wisst was passieren wird, falls ihr es wagt, das Verbot zu brechen?«, hakte Bruder Timon nach. Frederick presste die Lippen noch weiter aufeinander, nickte aber.
Er hatte schon mitangesehen was mit denen passierte, die ihren Schwur brachen und erwischt wurden. Die Kirche der güldenen Mutter hatte ihre ganz eigenen Strafen, außerhalb der Gesetzgebung des Königs. Nie würde er die Augen des gepfählten Mannes vergessen, den Schmerz und die Trauer. Es würde ihm für immer eine Warnung sein.
»Wie weit ist es noch bis zur nächsten Siedlung?«, fragte er nach einer Weile und versuchte durch das Schneetreiben etwas zu erkennen. Bruder Timon brummte etwas Unverständliches und stapfte weiter durch den Schnee.
Irgendwann tauchte ein dunkler Umriss vor ihnen auf, der sich von denen der zugeschneiten Bäume um sie herum deutlich unterschied. »Ein Haus«, rief Frederick und beschleunigte seine Schritte. Endlich konnten sie wieder in einem richtigen Haus schlafen und mussten sich bei der Kälte nicht mehr in Felsnischen zwängen und hoffen, dass das Feuer die Nacht überstand. »Wartet.« Ein starker Ruck hielt ihn zurück und zwang ihn langsamer zu gehen.
»Was ist los?«, fragte Fredrick mit leicht genervter Stimme. »Ich will endlich wieder die Hitze eines Feuers auf meiner Haut spüren und etwas richtiges zwischen die Zähne bekommen.« Bruder Timon deutete nach vorne auf das Haus. »Kein Rauch. Keine Menschen.« Frederick kniff die Augen zusammen. Tatsächlich. Dort wo aus dem Kamin der Rauch hätte aufsteigen sollen, war nichts zu sehen. »Vielleicht ist niemand zu Hause?«
»Es ist Abend. Irgendjemand sollte zu Hause sein und das Feuer hüten.« Frederick musste eingestehen, dass sein Begleiter recht hatte. Eigentlich brannten die Feuer zu jeder Zeit in dieser Ecke des Landes, ansonsten bekam man die Kälte nicht mehr aus den Räumen. Er nickte und Bruder Timon ließ ihn los. Frederick rückte seine Schaufel zurecht, die er über den Rücken trug und ging vorsichtig weiter. Die Schaufel war das Symbol seines Ordens, Totengräber nannten man sie im Volksmund und er musste eingestehen, dass es passte, auch wenn er noch nie einen Toten unter die Erde gebracht hatte. Dafür aber hatte er schon so einige von ihnen wieder ausgegraben.
Seine Aufgabe war es, altes und verlorenes Wissen zu entdecken und den toten Fingern der Vergangenheit zu entreißen. Und genau das hatte er getan. Zusammen mit Bruder Timon war er hoch in den Norden gereist und hatte dort in verlassenen Städten und Siedlungen nach Wissen gesucht und in den verfallenen Überresten eines Turmes eben jene Truhe mit alten Texten geborgen, die sich nun auf dem Karren befand. Frederick lechzte geradezu nach einer Gelegenheit, einige der Zeilen zu studieren, doch das würde Bruder Timon niemals zulassen. Eher würde er ihn töten. Das war schließlich seine Aufgabe. Die Bewahrung des Wissens vor allen Übeln und sei das Übel auch die Neugier eines unbefugten Ordensbruders.
»Ich schaue mal nach dem Rechten. Bleibt Ihr beim Wagen«, sagte Frederick. Bruder Timon nickte stumm, hatte den Blick aber weiter auf das Haus geheftet.
In gebückter Haltung schlich Frederick in Richtung des Hauses. Erst als er bis aus wenige Schritte herangekommen war, konnte er durch den Schnee mehr als nur die Konturen erkennen. Das Gebäude sah alt aus und stand auf kleinen Stelzen, damit die Feuchtigkeit des Bodens nicht in die Wohnräume ziehen konnte. Eine Wand war eingefallen und die Natur hatte bereits damit begonnen zurückzuerobern, was ihr gehörte.
Frederick ging zurück. »Es ist verlassen. Kein Feuer für uns.« Timon nickte. »Das dachte ich mir.«
Ohne auf seinen Begleiter zu warten, ging er weiter und das Maultier folgte ihm. Enttäuschung machte sich in Frederick breit. Es war nun schon mehr als eine Woche vergangen, seit sie das letzte Mal auf Menschen gestoßen waren. Hier oben waren die Landstriche nur spärlich besiedelt und Städte suchte man vergebens. Man hatte ihnen gesagt, dass das nächste Dorf Hestar war. Frederick hoffte, dass sie es bald erreichen würden. Hätte er gewusst, worauf sie sich zubewegten, hätte er sich seinen Wunsch noch einmal gut überlegt.

Himbel Bartsch war kein großer Mann, weder von großer körperlicher Statur noch war sein Charakter sonderlich gefestigt. Doch er war schlau und gewitzt und hatte ein Lächeln, mit dem er einem noch den letzten Taler aus der Tasche locken konnte. Er war der Eigentümer des einzigen Handelshauses in Hestar, doch daran dachte er im Moment nicht. Die Sonne war schon vor über einer Stunde untergegangen und Magreth, seine Tochter, war noch immer nicht zurück gekehrt.
»Wo kann sie nur sein?«, fragte er, während er unruhig in ihrer kleinen Schlafstube hin und her ging.
»Reg dich doch nicht so auf mein Lieber. Sie ist ein Kind und verspätet sich. Wir waren doch auch einmal jung.« Seine Frau Sophia hatte sich ans Fenster gesetzt und spähte nach draußen.
»Wie kannst du sowas nur sagen, wir müssen nach ihr suchen.« Sein Entschluss stand fest. Seine Hand wanderte zielsicher zu seinem Mantel, als sich die seiner Frau, sanft, aber bestimmt, auf seinen Unterarm legte.
»Beruhige dich erst einmal. Ich bin mir sicher, sie kommt jeden Augenblick zur Tür hinein.« Sie lächelte ihn an, doch er wusste, dass sie nicht annähernd so ruhig war, wie sie ihm glauben machen wollte. Die Eigenschaft, selbst bei größter Sorge die Ruhe zu bewahren, liebte er normalerweise an ihr, doch jetzt machte es ihn beinahe wahnsinnig. Er wollte sich Sorgen machen und er wollte nach ihr suchen.
»Mach du doch was du willst. Ich bleibe hier nicht tatenlos sitzen, während meiner Kleinen dort draußen, was weiß ich nicht alles, zugestoßen ist.« Er schob ihren Arm beiseite und stürmte hinaus. Die Glocke klirrte noch bevor er die unterste Stufe erreicht hatte.
»Maggie. Der Mutter sei Dank bist du wieder…«, sagte er, doch die Silhouette, die sich in der Öffnung abzeichnete, konnte unmöglich seiner Tochter gehören. Sie war viel zu groß und breit. Ihm stockte der Atem, doch dann trat die Gestalt endgültig in den Laden ein und offenbarte sich im Schein der Laterne, die Himbel auf der Treppe entzündet hatte.
»Sehe ich etwa aus wie deine Tochter, du alter Halsabschneider?«, lachte ihm Marduk entgegen, doch sein Lächeln verblasste, als er den Gesichtsausdruck seines alten Freundes sah. »Was ist los mit dir?«
»Sie ist verschwunden. Nicht wiedergekommen.« Himbel versuchte sich an dem breitschultrigen Mann vorbeizudrängeln, doch dieser wich keinen Schritt zur Seite.
»Beruhige dich.«
»Sag mir nicht, dass ich mich beruhigen soll. Ich werde sie suchen.«
»Und ich helfe dir. Aber wie willst du sie finden, wenn du nicht einmal klar denken kannst? Hier, nimm.« Er reichte ihm einen kleinen Flachmann aus verbeultem Metall. Himbel schraubte den Verschluss mit zittrigen Händen auf und nahm einen Schluck. Er keuchte, doch das Gebräu half. Seine Nerven beruhigten sich.
»Und jetzt sag mir, wo Maggie hin ist.«
»Ich weiß es nicht. Sie wollte nach draußen. Spielen.« Er fühlte sich hilflos. Warum hatte er sie nicht gefragt, wo sie hin wollte? Seine Gedanken überschlugen sich. Marduks kräftige Hand ruhte auf seiner Schulter. »Immer mit der Ruhe. Wir finden sie. Versprochen. Gibt es einen Ort, an dem sie gerne ist?« Himbels Gedanken kreisten, doch nach einer gefühlten Ewigkeit, schälte sich ein Wort aus seinen Gedanken.
»Das Ufer«, keuchte er. »Marduk, was wenn sie auf das Eis gegangen ist? Was wenn sie eingebrochen ist?«
»Komm, wir sehen nach.« Seine Stimme war ruhig und gelassen, doch auch in seine Augen schlich sich ein ängstlicher Schimmer. Für ihn war Maggie fast wie eine eigene Tochter.
Die beiden Männer verloren keine Zeit. Himbel nahm sich nicht einmal die Zeit, noch einmal nach oben zu laufen und Sophia zu informieren. Stattdessen rief er einfach schnell ein paar halbherzige Worte nach oben. Vor der Tür trennten sich Himbel und Marduk gleich wieder. Einer würde das Ufer des östlichen, der andere das Ufer des westlichen Sees absuchen. Der Wirt versprach auf dem Weg noch die anderen aufzuscheuchen, damit sie ihnen helfen konnten.

Maggie hatte das Ende der Landzunge fast erreicht. Die leicht abfallende Böschung war steilen Klippen gewichen, die zu beiden Seiten des Weges in die Tiefe führte.
Noch immer hielt sie ihren Ball in Händen, während sie mit offenem Mund auf die Ruinen starrte, die sich vor ihr auftürmten. Das Mondlicht warf ihr lange Schatten entgegen und instinktiv wagte sie es nicht, in sie hineinzutreten.
Unwillkürlich musste sie schlucken. Was sagte Mutter ihr Abend für Abend? »Halte dich von den Schatten fern, denn in den Schatten leben die Monster.« Sie hatte diesen Satz nie verstanden. Bis jetzt. Diese Schatten sahen wirklich so aus, als könnten in ihnen Monster leben. Was hatte sie nur getrieben, hier heraufzukommen?
Auf einmal wollte sie nur noch weg von diesem Ort.
Ihr Nackenhaare stellten sich urplötzlich auf.
Sie lauschte.
Nichts.
Nicht einmal der Wind machte noch ein Geräusch. Sie wollte etwas sagen, doch ihr Zunge gehorchte ihr nicht mehr. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, als sie sich ganz langsam umdrehte.
Nichts. Sie wusste nicht, dass sie schon beobachtet wurde, seit sie das Dorf verlassen hatte. Etwas unglaublich Altes war erwacht. Und es hatte Hunger. Die Leiche, die es im Wasser gefunden hatte, reichte nicht. Nicht einmal im Ansatz. Es hatte die Kreatur nur noch hungriger gemacht. Bald konnte es seine Opfer wieder ins Verderben locken, doch dazu brauchte es Kraft, Kraft die es sich von diesem kleinen Mädchen holen würde.
Es unterdrückte ein kehliges Brummen. Noch durfte es sich nicht bemerkbar machen, während es knapp unter dem Rand der Klippe hing. Es konnte riechen, wie sich das Mädchen beruhigte, hören, wie ihr Puls langsamer wurde.
“Ich dachte scho…”, sagte das Mädchen, doch es bekam den Satz nicht zu Ende. Die Kreatur zog sich über den Rand und packte zu.

Drei weitere Häuser waren am Wegesrand erschienen. Drei weitere Häuser hatten sie hinter sich gelassen. Allesamt zerfallen und verlassen. Schließlich hatten sie sich dazu entschieden, in der dritten Ruine ihr Lager aufzuschlagen. Es hielt die Kälte nicht ab, doch zumindest waren sie geschützt vom schneidenden Wind.
»Ich kann verstehen, dass die guten Leute den Norden verlassen, haben«, sagte Frederick, nach einer kurzen Nacht und dem kargen Mahl, dass Bruder Timon Frühstück nannte. Dieser nickte nur stumm und begann ihr Maultier zu füttern. Frederick hatte es Tito genannt. Er war bereits fertig, als sein Begleiter den Wagen anspannte. Dann ging es weiter.
»Wisst ihr, ich frage mich, was ich wohl als nächstes entdecken werde. Vielleicht findet eine meiner Entdeckungen den Weg in die Verbreitung. Was meint Ihr?«, fragte er nach einer Weile. Aus den Augenwinkeln beobachtete Frederick Bruder Timon. Er verzog keine Miene. »Möglich ist es.«
»Ja doch, das glaube ich auch. Manchmal frage ich mich, was wohl alles in Euren Hallen liegt. Es müssen unglaubliche Schätze dort liegen. Was man wohl alles erfahren könnte, wenn man die Toren nur einen Tag lang öffnete?«
»Vorsichtig.«
»Ich weiß. Es ist verboten. Und dennoch. Es reizt mich.«
»Das meine ich nicht. Seht doch. Hestar.« Vor ihnen tauchten die Umrisse von Häusern auf.
Erst eins, dann noch eins und schließlich ein gutes Dutzend. Alle waren sie verfallen.
»Was ist hier geschehen? Ich dachte das Dorf sei bewohnt.« Frederick blickte sich nach allen Seiten um, doch alles was er sehen konnte, waren die Ruinen und ein ausgeblichener Pfad, der auf eine Landzunge führte, die mitten auf den See hinauf führte.
»Sie müssen es aufgegeben haben. Wartet einmal. Ich glaube ich höre etwas.« Eine leichte Melodie an Stimmen schwebte ihnen entgegen. »Wo kommt das her?«, fragte Frederick. Timon deutete auf ein längliches Gebäude etwas weiter den Weg entlang. Als sie näher herangingen, sahen sie, dass es sich deutlich von den anderen Unterschied. Es schien gut in Schuss zu sein und das gleiche galt für die Handvoll Gebäude, die ihnen folgten.
Frederick straffte seinen zerschlissenen Mantel und rückte seine Schaufel zurecht. »Wollen wir dann? Wo wir gerade bei dem Thema waren, habe ich Euch schon von der Entdeckung Schwester Trines erzählt?«


Die Kreatur zerrte an ihr und zog sie bis zum Rand der Klippe. Maggie verlor den Boden unter den Füßen, doch sie fiel nicht. Es hielt sie in der Luft.
Etwas knackte.
Sie schrie.
Maggie wollte sich wehren, doch ihre Beine bewegten sich kein Stück.
Die Zähne des Monstrums bohrten sich ihren Körper, erneut knackte es. Doch sie starb nicht. Voll Schrecken bekam sie alles mit. Mit aufgerissenen Augen sah sie, wie das Monster Schritt für Schritt die steile Wand hinunter kletterte. Der laternenartige Fortsatz schwenkte hin und her und erst jetzt erkannte sie, was sich dort vor ihrem Blickfeld hin und her bewegte.
Es war ein Skelett.
Ein kleines, nur durch Algen und Schlick zusammengehaltenes Skelett.
Ihre Schreie verstummten. Sie verstand nichts mehr. Geistesabwesend versuchte sie sich an der Wand festzuhalten.
Die Nägel brachen ab und Blut verschmierte den gefrorenen Stein. Sie bemerkte es nicht.
Erneut kaute das Monster auf dem zierlichen Körper herum. Ihre Beine begannen schon sich vom Rest des Körpers zu trennen und dennoch konnte sie nicht sterben.
Mit einem Mal wurde ihr kalt, als das Monster durch ein Loch im Eis brach. Die Wassermassen umfingen sie. Plötzlich änderte sich ihre Perspektive. Sie sah nicht mehr das Skelett. Auf einmal sah sie etwas anderes, etwas dass ihr einen riesigen Schrecken einjagte, bevor jegliches Gefühl auf ewig aus ihr wich.
Sie sah sich selbst.
Im Maul der Kreatur.

»Sie ist noch irgendwo dort draußen«, sagte Himbel zu den anderen Dörflern, die sich im Gasthaus >Zu den drei Augen< versammelt hatten.
»Es ist schon fünf Tage her.« Marduk legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid, alter Freund. Der See hat sie geholt.« Himbel zuckte zurück und wischte die Hand seines Freundes von der Schulter.
»Ich hab sie gesehen. Sie ist noch dort. Ich muss sie finden.« Ein wahnsinniger Ausdruck hatte sich auf sein Gesicht gelegt.
»Wenn du sie wirklich gesehen hast, warum ist sie dann nicht nach Hause gekommen?«, fragte Gulda, die etwas stämmige Frau von Marduk und wischte sich den Schweiß von ihrem kahlen Kopf. Er antwortete nicht, doch auch der Wahn verschwand nicht aus ihrem Gesicht.
Er murmelte etwas und wiederholte es immer wieder, bis sie es schließlich verstehen konnten.
»Sie ist immer noch dort draußen.«
»Schon gut, Himbel. Setz dich ans Feuer und trink etwas. Wir suchen noch einmal nach ihr.« Marduk legte ihm wieder die Hand auf die Schulter, diesmal jedoch deutlich bestimmter und warf einen bedeutsamen Blick in die Runde.
Ihnen allen war klar, dass die kleine Maggie nicht mehr unter den Lebenden wandelte. Der See hatte sie geholt. Das wussten sie alle.
Er wollte Himbel gerade mit sanfter Gewalt in Richtung der Feuerstelle schieben, als dieser plötzlich aufsprang.
»Ihr seid doch alle verrückt geworden. Wollt ihr mir denn gar nicht helfen? Schöne Freunde seid ihr. Ich werde sie finden ihr Narren. Wollt ihr wirklich mein kleines Mädchen dort draußen sterben lassen?«, schrie er und der Ausdruck in seinem Gesicht war nur noch eine verzerrte Maske aus Wut und Furcht.
Mit langen Schritten lief er durch den Raum und Riss die Tür auf, ohne sich auch nur seinen Mantel überzuwerfen
Dann drehte er sich um und lief zur Tür, riss sie auf und prallte zurück.
»Wenn ich es Euch doch sage, sie nannte sie Aquädukte. Faszinierende Bauwerke.«

Die Suche

Bruder Timon quittierte Fredericks Ausführungen mit einem stummen Nicken. Sein Blick war starr auf die Figur vor ihnen gerichtet. Er hat mir gar nicht richtig zugerhört, dachte Frederick.
Als er seinem Blick folgte, sah er den Grund. Zuerst dachte er, der Mensch, der vor ihnen stand, hätte sich eine bizarre Maske aufgesetzt, um die Reisenden zu begrüßen. Erst beim zweiten Blick erkannte er, dass es das Gesicht des Mannes war. Bei der güldenen Mutter, noch nie hatte er so viel Trauer und Wut auf einem Antlitz gesehen, wie in diesem Moment.
»Lasst mich durch«, sagte Himbel mit zusammengepressten Lippen. Es klang beinahe lallend.
Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern stürmte wie ein wildgewordener Bock auf die beiden zu. Frederick sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite und wäre um ein Haar von der Rampe gestürzt, die das Gasthaus mit der Straße verband. Der Mann sprach beinahe lallend und wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern stürmte beinahe auf uns zu.
Mein Begleiter rührte sich keinen Fingerbreit von der Stelle. Obwohl nicht allzu viel Platz dadurch gewonnen wart, reichte Himbel der Platz aus und im nächsten Augenblick war er verschwunden.
»Warte doch. Dein Mantel«, rief ihm der Wirt hinterher, doch er kam nicht mehr zurück.
Irritiert blickte sich Frederick um. »Was ihn wohl so aufgebracht hat?«, fragte er, als sie ins Innere getreten waren.
»Verlust«, sagte Bruder Timon und über seine Augen legte sich der Schatten der Vorahnung. Immer wenn er in den letzten Monaten diesen Ausdruck im Gesicht hatte, war etwas Schreckliches geschehen. Ein Wolfsrudel, ein Sturm oder der plötzlich anschwellende Fluss, um nur drei Beispiele zu nennen. Allen Ereignissen war dieser Ausdruck voraus gegangen.
Er begann seinen Mantel vom Schnee zu befreien und Frederick tat es ihm gleich, wobei er dabei die vielen kleinen Löcher offenbarte, die sich mittlerweile im Pelz gebildet hatten.
Er wollte gerade etwas erwidern, als ein breitschultriger Mann sich vor ihnen aufbaute. »Willkommen in Hestar, die Herren. Mein Name ist Marduk, ich bin der Wirt dieses beschaulichen Hauses.«
»Habt Dank Marduk, mein Name ist Frederick vom Stein und mein Gefährte hier hört auf den Namen Timon. Wir sind Brüder der güldenen Mutter und erbitten Eure Gastfreundschaft«, erwiderte er den Gruß nach alten Sitten.
Die Miene des Wirtes hellte sich merklich auf. »Dann seid ihr wahrlich Willkommen. Bitte setzt Euch an mein Feuer und trocknet Eure Kleidung. Ich will Euch gleich etwas zu Trinken und zu Essen bringen. Ihr müsst hungrig sein.«
»Das sind wir. Wir bräuchten auf jemanden, der unser Tier versorgt und den Karren unterstellt, wenn dies nicht zu viel verlangt ist.«
“Wo denkt Ihr hin. Gulda, bring unseren Gästen das beste Bier und wärme die Suppe auf. Ich bin gleich wieder da.« Ohne eine Sekunde zu zögern, stapfte er zu Tür, warf sich einen alten, doch bestens gepflegten Mantel über und stapfte hinaus. Im nächsten Moment hatte die weiße Wand aus Schnee ihn auch schon verschluckt.
Frederick und Bruder Timon gingen zu einer Gruppe von alten Sesseln, die um einen aus grob behauenem Steinen gemauertem Kamin stand und hängten ihre Mäntel in die Nähe des Feuers. Seine Schaufel lehnte Frederick an einen der Stützpfeiler, doch nur so weit entfernt, dass er sie sofort greifen konnte. Dann warf er sich in einen der Sessel und stieß einen lang gedehnten Seufzer aus.
Für einige Momente genoss er die fast schon sengende Hitze auf seiner Haut, bis es beinahe unerträglich wurde. Dann schob er seinen Stuhl mit den Füßen einen halben Schritt nach hinten.
Einige Geruchsfetzen verfingen sich in seiner Nase.
Kräuter, ranziges Fett und noch etwas anderes, das er nicht bestimmen konnte. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Die letzte warme Mahlzeit war schon mehr als eine Woche her.
»Vermisst du nicht auch die Speisen aus dem Kloster? Wenn wir wieder dort sind, werde ich eine Woche nichts anderes tun, als mich mit Wein und Wachtel zu berauschen, mein Freund.«
»Ihr habt Pflichten.«
»Könnt ihr mir nicht einmal meine Träume gönnen?«
»Träume können uns verführen.« Sein Blick traf den von Frederick und er erkannte, wie ernst es seinem Begleiter damit war. Er verstand einfach keinen Spaß, doch dafür war er auch nicht mit auf diese Reise gekommen, wie Frederick es sich immer wieder ins Gedächtnis rufen musste.
Gulda kam und brachte ihnen zwei große Humpen mit warmen Würzbier. Es roch etwas abgestanden, doch immer noch besser als alles andere in letzter Zeit. Genüsslich nahm Frederick einige Schlucke, als Gulda auch schon mit zwei dampfenden Schüsseln zurückkehrte.
»Hier die Herren, ich wünsche Euch einen guten Appetit.« Sie stellte das Essen auf die kleinen Tische und Frederick zog seinen Stuhl wieder näher ans Feuer, um bequem Speisen zu können.
»Habt Dank, möge die güldene Mutter die Speisen, die ihr uns gereicht habt, segnen«, sagte Timon und öffnete seine Arme zu dem traditionellem Gruß der Kirche, die für das ungeübte Auge wie eine Einladung zu einer Umarmung anmuten mochte. Gulda erwiderte den Gruß, ebenso wie Frederick.
Sie verbeugte sich noch einmal, dann zog sie sich zu den übrigen Dörflern an den Schanktisch zurück. An dem alten Stück Holz standen noch fünf weitere Leute, drei Frauen und zwei Männer, wobei zwei von ihnen deutlich älter waren als der Rest. Sie alle sahen alle mitgenommen aus. Frederick sah ihre müden Gesichter und die verquollenen Augen selbst vom Kamin, über den gesamten Raum hinweg.
»Was hier wohl passiert ist?«, fragte er leise, an seinen Begleiter gewandt.
»Hmm« Wortkarger Bastard, dachte Frederick. Selbst wenn die Welt untergeht, würde er sich niemals zu einem ausgelassenen Kommentar hinreißen lassen, außer natürlich, wenn es darum ging, ein Gebet zu rezitieren oder eine Andacht zu halten.

Ihr Fleisch hatte es gestärkt, doch noch immer war der Hunger nicht gestillt.
Es brauchte noch mehr.
Viel mehr.
Das Wasser umschlang den gewaltigen Körper der Kreatur und dämpfte das Verlangen nach Blut ein wenig, doch es wusste, dass es bald wieder an der Zeit war. Und nun hatte es die Kraft, die es brauchte, um zu jagen, wie die Kreatur es seit Urzeiten getan hatte.
Wie lange war es gefangen gewesen? Es wusste die Antwort nicht, doch es musste eine Ewigkeit gewesen sein. Ein Erdrutsch hatte das Gefängnis zerstört.
Hatten diese armseligen Kreaturen wirklich gedacht, dass man es wegsperren konnte.
Für die Ewigkeit?
Nein. So dumm waren sie nicht gewesen. Sie hatten es nicht töten können. Doch bannen war möglich gewesen. Sie wollten sich Zeit kaufen.
Doch was war dann geschehen? Wieder eine Frage, die es nicht beantworten konnte.
Doch die Menschen waren fort. An ihre Stelle waren andere getreten. Schwächere. Ahnungslose.
Speichel quoll der Kreatur aus dem Mund und Luftblasen stiegen an die Oberfläche. Bald würde es Dunkel werden und dann würde es sich erheben.
Wie sollte es vorgehen? Es hatte die Seele des Mädchens. Die Kreatur schloss die Augen und durchsuchte die Gedanken der Toten. Vater und Mutter. Es kannte die Begriffe, doch nicht die Konzepte, die sich dahinter verbargen. Doch immerhin verstand es genug, als dass diese Personen wichtig gewesen waren.
Und sie waren in der Nähe.
Es streckte seinen Willen aus und augenblicklich legte sich die Gestalt des Mädchens über das Skelett. Es hatte die Knochen gefunden, nachdem es sich aus seinem Gefängnis in die Freiheit gegraben hatte.
»Vater.« Die Stimme des Mädchens war glasklar zu hören, obwohl sie unter Wasser waren. Die Kreatur schüttelte sich vor Gier. Sand wirbelte auf und stieg in einer Wolke der Wasseroberfläche entgegen, bis es von einer seichten Strömung erfasst und verteilt wurde.
Die vier kurzen Beine stießen sich vom Boden ab und die Kreatur stieß aus dem Wasser hervor und landete im Schnee. Dort wo es auftrat, hinterließ es tiefe Spuren im Schnee, doch kein Körper war zu sehen.
Maggie trat Schritt für Schritt durch den Schnee, getrieben von einem einzigen Gedanken. Nach Hause. Die Kreatur ließ sie gewähren.
Für den Moment.
»Vater«, wiederholte sie immer wieder, während sie selbst spurlos durch den Schnee ging. Langsam näherte die Kreatur sich den Häusern. Es hatte sich viel verändert. Früher waren sie mehr gewesen. Viel mehr. Und es war… wie nannten die Menschen es? Wärmer? Ja genau, es war wärmer gewesen, dachte die Kreatur.
Vor einem zweistöckigen Holzbau hörte der Geist des Mädchens auf, sich zu bewegen. Das war es also. Die Kreatur blickte empor. Es leuchtete ein Licht im oberen Stockwerk. Es spürte zwei Menschen. Einer war wach. Es war der Vater.
Noch einmal forschte die Kreatur in den Gedanken des Mädchens. Er hieß Himbel, sie selbst Maggie. Es vergaß sie gleich wieder. Namen verstand es nicht. Sie waren nicht wichtig.
»Vater.« Diesmal war es die Kreatur selbst, die durch das Mädchen sprach. »Komm spiel mit mir.« Es war eine Stimme, die gehört werden musste. Sie fand nicht auf einer anderen Ebene statt, als die auf der die Menschen kommunizierten.
Ein Umriss zeichnete sich deutlich gegen das Licht ab. »Komm herunter. Spiel mit mir. Ich will wieder bei dir sein.«
»Ja. Warte auf mich«, antwortete Himbel mit müder, aber glücklicher Stimme. Doch er bewegte sich nicht, sondern wiegte sich nur hin und her.
»Komm her«, flüsterte die Kreatur noch einmal und die Stimme des Mädchens erreichte ihr Ziel.
»Ja.« Er bewegte sich und verschwand. Doch die Kreatur fühlte, dass sich der Vater aus dem Zimmer hinaus und die Treppe nach unten bewegte.
Er würde nun folgen. Eine ursprüngliche Zufriedenheit erfasste es und ein wohliges Schütteln ließ den gewaltigen Körper erbeben.
Die Gestalt Himbels erschien in der Tür und tat einen Schritt auf die kurze Rampe. Er trug keinen Mantel. Nicht einmal Schuhe hatte er sich angezogen. Er würde halb erfroren sein, bis sie das Wasser erreicht hatten, doch das war egal. Es brauchte nur das Fleisch zu verspeisen, ehe die Seele aus Körper gewichen war.
Himbel schritt durch den Schnee auf die Gestalt seiner Tochter zu. Die Kreatur sah er nicht.
Maggie bewegte sich. Sie drehte sich um und ging. Er folgte ihr. Seine Füße liefen bereits nach wenigen Sekunden blau an, doch er empfand keinen Schmerz. Er wollte nur zu ihr.
Der See kam in Sicht.
Am Ufer drehte sich seine Tochter zu ihm um. Mittlerweile humpelte Himbel nur noch und drohte, jeden Moment, nach vorne zu kippen. Er war nur noch eine Armlänge von ihr entfernt.
Dann verschwand sie. Er hatte keine Augen für das Skelett, denn auf einmal schien sich ein Riss in der Wirklichkeit zu öffnen. Reihe um Reihe spitzer Zähne erschienen in der Luft und schnellten auf ihn zu.
Himbel wollte schreien, doch seine Zähne klapperten vor Kälte.
Er starb, ohne auch nur einen letzten Laut getan zu haben.

Die Tür flog auf und der Wirt stapfte ins Innere. Schnee rieselte von seinem Mantel und er schüttelte sich kräftig, verteilte dabei das Weiß in einem zwei Meter großen Umkreis. Es schmolz sofort.
Frederick hatte sein Mahl schon beendet, doch Bruder Timon hatte noch einen kleinen Rest übrig, als der Wirt sich zu ihnen gesellte.
»Dürfte ich die werten Herren fragen, was sie in diese von der Göttin verlassene Gegend führt?«, fragte er mit einem beinahe ängstlichem Blick in den Augen. Von seiner anfänglichen Freude war nicht mehr viel übrig geblieben.
»Keine Gegend ist von der Göttin verlassen«, berichtigte ihn Bruder Timon mit einem grimmigen Lächeln und schob sich einen weiteren Löffel in den Mund.
»Das stimmt«, pflichtete ihm Frederick bei. »Doch ich möchte es Euch nicht übel nehmen, dass ihr dies denkt. Hier kommt wohl nicht gerade oft ein Priester vorbei, oder?« Marduk lächelte ihn kurz an, nahm sich dann einen weiteren Stuhl und setzte sich.
»Recht habt Ihr. Es muss schon zwei Jahre oder noch länger her sein, dass einer der Samariter uns besuchte.«
»Und es wird auch noch länger dauern. Wir sind keine Samariter.«
»Nicht? Aber ich dachte, die Samariter ziehen von Dorf zu Dorf und verrichten das Werk der güldenen Mutter?« Er blickte die beiden Priester verwirrt an und Frederick schenkte ihm ein mildes Lächeln. Dörfer. Natürlich kannten sie nur Wanderprediger der tausend helfenden Hände der güldenen Mutter.
»Nein. Wir sind auf einer speziellen Reise und befinden uns gerade auf dem Rückweg aus dem Norden. Wir gehören zu anderen Orden.«
»Es gibt noch einen anderen Orden, als die Samariter?« Je länger das Gespräch andauerte, desto höher wanderten seine Augenbrauen.
»Andere Orden.« Bruder Timon stellte seine leere Schale mit Nachdruck auf den Tisch und wies streng zuerst auf sein, dann auf Fredericks Skapulier, die sie über den Roben trugen.
»Verzeiht, aber ich verstehe nicht…«, gab der Wirt zu.
Unter die ehrliche Verwirrung des Gastwirts mischte sich die gleiche Emotion, die Frederick auch schon bei den anderen Dorfbewohnern bemerkt hatte.
Trauer. Er versuchte sie zu verbergen und schaffte es auch die meiste Zeit. Doch ab und an brach sie durch. Wahrscheinlich will er nur der Höflichkeit halber ein wenig Plaudern, bis er sich endlich offenbart, dachte er.
»Seht ihr die Schaufel, vor dem Umriss der Mutter auf meinem? Gut. Ich gehöre zu den Totengräbern und Suchern des verlorenen Wissens.«
»Deshalb die Schaufel?« Er wies auf das Symbol meines Ordens, dass immer noch gegen einen Balken lehnte. »Ihr seid ein Totengräber?« Seine Augen leuchteten kurz. Er hatte etwas gefunden, was er verstand. »Nicht wie ihr denkt. Ich bestatte die Toten nicht. Das tun die Samariter. Ich grabe nach den Toten und suche das, was sie an Wissen mit ins Grab genommen haben.« Marduk nickte eifrig, doch die Vorstellung ein Grab zu öffnen, schien ihm Unbehagen zu bereiten.
Tausend Feuerameisen in den Venen, dachte Frederick. Er hält mich für einen gemeinen Grabschänder. Er wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als sich der Wirt plötzlich an Fredericks Gefährten wandte.
»Und was bedeutet das Buch, das von den Ketten umschlungen ist? Gehört er ihr auch, zu den… anderen?« Er wollte das Wort nicht einmal in den Mund nehmen. Deshalb erkläre Frederick nicht gern, was er tat. Es führt nur zu Irrtümern.
»Nein, gehört er nicht«, sagte Frederick härter als notwendig und sein Gegenüber zuckte merklich zusammen, »Er gehört zum Orden der Bewah…«
»Du redest zu viel«, sagte Bruder Timon und schnitt ihm mit einer raschen Handbewegung das Wort ab.
Frederick schluckte.
Eine Ader an seinem Hals pulsierte.
Er war wütend.
Frederick schluckte noch einmal. Das war nicht gut. Fieberhaft suchte er nach einer Möglichkeit, das Thema zu wechseln.
»Sagt, guter Mann, die Menschen hier scheinen wegen irgendetwas betrübt zu sein. Was ist passiert?« Auch der Wirt schien dankbar für die Gelegenheit, denn er stürzte sich geradezu auf die Frage, wie ein hungriger Wolf auf einen Brocken Fleisch. »Ich wollte Euch eigentlich nicht damit belästigen, aber wenn ihr es denn wissen wollt. Die Tochter meines Freundes, Himbel, dem Krämer, ist vor fünf Tagen verschwunden. Sie war spielen und ist nicht zurück gekehrt. Wir haben sie überall gesucht, aber nicht gefunden.« Eine Träne bildete sich in seinem Augenwinkel.
»Das tut mir leid. Sie scheint Euch viel zu bedeuten.«
»Tut sie uns allen. Sie ist das einzige Kind hier im Dorf. Sie brachte Leben in den Alltag.«
»Wenn ihr wollt, können wir eine Andacht für sie halten. Wir müssen ohnehin bleiben, bis der Sturm vorüber ist. Er hätte unser Maultier beinahe getötet. Es ist einfach nicht für dieses Klima geschaffen.«
Bruder Timon funkelte Frederick böse an, doch sagte nichts. Wie sollte er denn auch. Es war schließlich ihre Pflicht den Menschen zu helfen. Orden hin oder her.
»Das würdet ihr tun? Danke, das bedeutet mir… uns allen sehr viel.« Er stand auf und ging zu den anderen. Sie tauschten einige Wörter, dann sah ich dankbare Blicke, aber auch ängstliche Blicke in Fredericks und vor allem Bruder Timons Richtung huschen.
»Das hättet Ihr nicht tun sollen«, knurrte er. »Wir haben eine Aufgabe. Ihr habt eine Aufgabe.«
»Es ist unsere heilige Pflicht, den Trostlosen und Bedürftigen unsere Hilfe anzubieten, wo wir auch können. Und ich habe nicht gelogen. Wir müssen hier bleiben, bis der Sturm abflaut.« Er schwieg. Niemals würde sich Bruder Timon gegen die Gesetze der güldenen Mutter wenden, zumindest darauf konnte man sich verlassen, im Guten, wie im Schlechten.
»Passt auf, dass ihr auf dem rechten Pfad bleibt. Ich bin bei Euch«, sagte er dann doch noch, erhob sich und holte sich den Schlüssel für sein Zimmer vom Wirt. Bei jedem anderen hätte das beruhigend geklungen, doch bei ihm war es eine Drohung. Er hätte auch gleich mit den Knöcheln knacken können.
Frederick wollte ihm gerade folgen und ebenfalls ein Zimmer verlangen, nach Möglichkeit am anderen Ende des Flures, als die Tür erneut aufflog und eine Frau hinein stolperte und auf dem Boden zusammenbrach.
»Sophia«, rief der Wirt und eilte zu ihr. »Was ist denn in dich gefahren?«
Frederick trat ebenfalls näher heran und so entging ihm nicht was sie sagte.
Ihre Stimme überschlug sich fast, obwohl sie sehr leise sprach. »Er ist weg. Weg. Nach draußen gegangen. Er ist weg. Finde ihn Marduk. Bitte. Ich kann ihn nicht auch noch verlieren. Weg. Meine Magie.« Die letzten zwei Worte wiederholte sich immer wieder, bis ihr schließlich auch dazu die Kraft fehlte.
Marduk hüllte sie in einen der Mäntel und hob sie vom Boden auf. Er verschwand in Richtung der Zimmer und kam kurz darauf mit einem panischen Flackern in den Augen wieder. »Sie schläft«, sagte er und ging an Frederick vorbei, um sich seinen eigenen Mantel überzuwerfen.
»Was ist passiert?« Der Priester hielt ihn am Oberarm fest, doch es war nicht mehr als eine Geste. Der Wirt war zwar nicht so groß und breit, wie Bruder Timon, doch im Vergleich zu Frederick, immer noch ein Bär und er selbst war die Gans.
Er hielt nicht einmal in seiner Bewegung inne. »Sie ist Himbels Frau. Ich hätte ihn aufhalten sollen. Wenn Ihr es nicht lassen könnt, dann folgt mir. Gulda, kümmere dich bitte um Sophia und ihr andern seht zu, dass ihr euch auch etwas überwerft und mir gefälligst helft. Himbel ist einer von uns.«
Zögerlich erhoben sich die anderen und zogen sich ihre Mäntel an. Von irgendwo hinter dem Tresen zauberten sie mehrere Sturmlaternen hervor. Vorbereitet waren sie auf diese Jahreszeit, das musste Frederick ihnen lassen.
Er selbst nahm sich nur seine Schaufel und den alten Mantel, der noch immer nicht ganz trocken war. Nicht, dass er erwartete damit graben zu müssen, doch es fühlte sich einfach nicht richtig an, sie hier zurückzulassen.

Die kleine Gruppe verließ das Gasthaus gemeinsam. Man konnte die Hand vor Augen kaum erkennen und an Orientierung war für Frederick nicht zu denken. Verflucht noch eins, dachte er. Wenn mich diese Leute hier mitten in ihrem Dorf aussetzen würden, ich würde erfrieren, ehe ich eines der Häuser in meiner Nähe gefunden hätte.
»Wir sollten uns trennen«, rief Marduk über den Wind hinweg und der Schnee schien jedes seiner Worte beinahe zu verschlucken. »Doktor, Anne. Geht ihr zum dritten Auge, der Priester und ich gehen zum Ersten. Der Rest sieht beim zweiten Auge nach. Er kann noch nicht weit gekommen sein.«
Alle nickten.
Die beiden Ältesten gingen mit wankenden Schritten in Richtung Süden.
Der Wirt und Frederick gingen noch ein kurzes Stück mit den anderen, dann bogen sie ab und stemmten sich gegen den Wind. Mehr als einmal wurde Frederick von einer Böe zurück geworfen und er spürte, wie sich Schnee in seinen Stiefeln sammelte. Er verspürte ein schmerzhaftes Zucken an seinem Zeh, das mit jedem Schritt noch weiter zunahm. Marduk verhinderte mehr als einmal, dass Frederick in den tiefen Schnee fiel.
»Danke«, sagte der Priester nach einer weiteren Rettung durch den Gastwirt.
»Wir sind gleich da. Versucht etwas durch diesen Sturm zu erkennen. Wenn wir noch lange draußen bleiben, dann war es das für uns. Selbst im frühen Winter erreichen die Temperaturen nachts tödliche Tiefpunkte.«
Frederick schluckte. Dieser Wirt sagte das mit einer eisernen Ruhe in der Stimme. Hatte er denn keine Angst? Er hatte sie. Bei der güldenen Mutter, ich bin einfach nicht geschaffen, für diese Umgebung, dachte der Totengräber
»Nach was soll ich Ausschau halten?«
»Nach einem Menschen. Ihr habt ihn doch gesehen.« Ärger schwang in seiner Stimme mit. Er bereute es, mich mitgenommen zu haben, dachte Frederick. Er konnte es verstehen.
Da sah er in all dem Weiß kurz etwas Braunes aufblitzen. Dann war es wieder verschwunden.
Kurz fragte er sich, ob er sich getäuscht hatte, doch was hatte er schon zu verlieren.
»Dort vorne.« Er wies auf die Stelle und gemeinsam stapften sie darauf zu.
»Hier ist nichts«, sagte Marduk und wandte sich schon wieder um. »Gehen wir weiter.«
»Wartet.« Frederick wühlte mit seiner Schaufel im Schnee, bis er auf etwas hartes stieß. Er zog den Wirt zurück und wies ihn an, zu helfen.
»Was ist da?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht, doch wir finden es gleich hinaus.« So fest er konnte, zog er an dem Gegenstand. Marduk hielt ihn an der Hüfte und zog ebenfalls.
Auf einmal gab der Widerstand nach und Frederick fiel nach hinten. Er entglitt Marduks Griff und landete im Schnee. Sofort spürte er, wie die Kälte in ihn eindrang. Sie umfing ihn, als Massen als kleinen Eiskristallen unter seine Kleidung stoben und sich in seine Haut gruben. »Kalt«, keuchte er.
Sofort war Marduk bei mir und half ihm auf. »Wir müssen sofort zurück.«
»Wartet.« Er hatte den Gegenstand fallen lassen und hob ihn auf. Es war ein Stiefel, bereits gefroren und unter der dünnen Eisschicht klebte etwas Rotes an dem dicken Leder. Marduk keuchte. »Der gehört Himbel.«
»Seid Ihr Euch sicher?«
»Aber ja doch, ich habe sie ihm selbst geschenkt, als seine Alten nichts mehr taugten. Wir müssen hier weg, sonst erfriert Ihr noch.« Mir sanfter Gewalt zog er Frederick hinter sich her, während die Kälte seine Glieder steif werden ließ. Schon konnte er Teile seines Fußes nicht mehr spüren.
Seine Gedanken glitten von dem Schneesturm und dem verschwundenen Krämer weg und in Richtung der Heimat.
Was würde Frederick dafür geben, jetzt in einer großen Bibliotheken zu sitzen und in den alten Rollen zu lesen.
Müdigkeit umfing ihn und er sah nur noch verschwommen die Gestalt des Wirtes. Die Taubheit breitete sich immer weiter aus. Erst der Fuß, dann das Bein.
Frederick stolperte und fiel.

Mit wachsamen Augen beobachtete Bruder Timon die Tür. War Bruder Frederick wirklich mit den anderen gegangen, um nach diesem Krämer zu suchen, oder wollte er die Gelegenheit nutzen, um sich das verbotene Wissen anzueignen, welches sie gefunden hatten?
Die Frau des Wirtes hatte ihm erzählt, was sich zugetragen hatte. Sollte er ihnen vielleicht nachgehen?
Nein.
Er wusste nicht, wo Bruder Frederick hingegangen war. Es war besser ihn hier zur Rede zu stellen. Seine Hände spielten mit den beiden Schlagringen in den Taschen seiner Robe. Schon lange vor seiner Zeit bei Orden und Kirche hatten sie ihm auf den Straßen von Prasos gute Dienste geleistet und sie würden es gewiss auch noch weiter tun.
»Kann ich noch etwas für Euch tun, der Herr? Ich bin mir sicher, die anderen werden bald zurück kommen.« Gulda war hinter der Theke erschienen und beäugte ihn neugierig. Sie mochte Mitte fünfzig sein und damit ungefähr im gleichen Alter, wie ihr Mann und hatte langes, rostbraunes Haar. Ihr Lächeln wirkte offen, doch Bruder Timon wusste, dass die größten Sünden hinter dem strahlendsten Lachen verborgen werden konnten.
»Nein«, brummte er in seinem tiefen Bass und wandte sich wieder der Tür zu.
»Wollt ihr vielleicht einen Tee, während ihr auf Euren Freund wartet.«
»Nein.«
»Ihr seid wohl nicht sehr gesprächig, wie?« Sie lachte künstlich auf und Bruder Timon gab ihr keine Antwort, sondern starrte weiter geradezu auf die Tür.
Mit grimmiger Freude dachte er daran, was er tun würde, wenn sich sein Verdacht bestätigte. Ihm machte das Töten keinen Spaß, doch er mochte Bruder Frederick auch nicht besonders. In seinen Augen war er zu neugierig, zu vorlaut und zu freigiebig was die Gunst der Güldenen anging.
Es würde das Richtige sein.
Die Tür wurde aufgestoßen und vor der Kulisse aus Dunkelheit und Schnee zeichnete sich der Umriss des Wirtes ab, der ein großes Bündel auf den Armen hielt.
»Ist Dok Barey schon wieder hier?«, rief er in den Raum hinein, ohne Bruder Timon oder seine Frau direkt anzublicken.
»Nein«, sagte sie nach einigen Sekunden und eilte zu ihm. Gemeinsam legten sie Bruder Frederick auf einen der Tische. »Bei der Güldenen, was ist mit ihm passiert, er ist ja ganz blau.«
»Das Eis. Er hat Schnee unter die Kleidung bekommen und ist dann auch noch gestürzt. Er hätte mit diesem zerschlissenen Mantel erst gar nicht raus in die Kälte gedurft.«
Bruder Timon stellte sich zu ihnen und seine Hände griffen die Schlagringe fester.
»Was hat er getan? War er die ganze Zeit bei Euch?«
»Warum wollt ihr das wissen? Ja, das war er. Haltet seinen Kopf hoch. Wir haben uns von den anderen getrennt und wollten an den Ufern der drei Augen nach Himbel suchen, als es passierte. Wir haben einen Schuh gefunden. Zieht ihm seine aus, sonst verliert er noch die Füße.«
Er gehorchte, löste seine Hände aus den Taschen und half dem Wirt so gut er konnte. Eine leichte Enttäuschung machte sich in ihm breit.
Seine Prüfung war noch nicht zu Ende, zumindest wenn Bruder Frederick die Nacht überstand. Doch er hatte nichts getan, was gegen die Gebote verstieß und er würde tun, was in seiner Macht stand, um ihm zu helfen.
Sie befreiten ihn von all seinen Kleidern und trieben das Feuer mit ein paar neuen Scheiten wieder an. Am schwersten war es, seinen Griff, um die Schaufel zu lösen, die er selbst in der Ohnmacht noch umklammerte. Der kleine Zeh am linken Fuß begann schon, sich schwarz zu färben.
»Das sieht nicht gut aus. Wo bleibt Barey bloß.«
»Sie suchen noch. Ich kann gehen und sie holen«, sagte Gulda, doch der Wirt schüttelte den Kopf.
»Wir brauchen dich hier. Hole bitte Decken, so viele wie du kannst und noch etwas von der Brühe. Und Schnaps. Er wird Schnaps brauchen, wenn der Doktor wieder da ist.«

Die Stimme in der Nacht

Frederick erwachte durch ein Knacken. Ihm war kalt und er konnte sich nicht bewegen.
»Er rührt sich.«, sagte eine Stimme. Etwas nasses lag auf seinen Augen, doch sie kam ihm wage bekannt vor.
»Wie geht es dir? Kannst du mich hören.«
»Wasser«, hauchte Frederick. Er hatte Durst und fühlte sich, als hätte er seit Tagen nichts mehr getrunken. Irgendjemand fasste seinen Hinterkopf und richtete ihn leicht auf, dann spürte er etwas an seinen Lippen und der Geruch nach ranzigem Fett und aufgewärmten Gemüse stieg ihm in die Nase. »Trinkt das, dann geht es Euch besser.« Er gehorchte, wenn auch nur langsam.
Es bereitete ihm unglaublich große Mühe zu schlucken. Doch es half. Die Brühe belebte seine Lebensgeister von Neuem und er begann ein wenig klarer zu denken.
»Ihr hattet Glück, es hätte nicht viel gefehlt und ihr wärt jetzt bei der güldenen Mutter, die ihr so verehrt.« Es war eine andere Stimme, doch plötzlich fiel ihm ein, zu wem die erste gehörte. Marduk.
Licht stach ihm in die Augen, als jemand den Lappen entfernte und er brauchte einen Augenblick, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen.
Als Erstes sah er die Menschen, die sich um ihn versammelt hatten. Bruder Timon, Marduk, seine Frau Gulda, die anderen kannte er nur vom Sehen. Es waren die gleichen, die mit ihnen die Suche begonnen hatten. Der alte Mann stand zu seiner Linken und hatte zwei Finger auf Fredericks Handgelenk gelegt, auch wenn ihm der Sinn nicht klar werden wollte.
»Ihr werdet überleben. Doch der Zeh muss ab.«
»Der Zeh?«, stammelte er. »Was ist passiert, haben wir ihn gefunden?«
»Ihr seid gestürzt und ohnmächtig geworden. Das Eis hätte Euch fast getötet«, sagte Marduk mit belegter Stimme. »Himbel ist tot.« Sein Kopf begann sich zu drehen. Gestürzt? Er hatte keine Erinnerungen mehr daran, nur noch an…
»Der Schuh. Wir haben seinen Stiefel gefunden. Wir waren auf seiner Spur. Ihr könnt ihn noch finden, wenn ihr euch auf den Weg macht.« Der Wirt lächelte traurig.
»Nein. Niemand überlebt die Nacht bei der Kälte mit nur einem Schuh. Er ist tot.« Aus den Augenwinkeln sah er, wie der alte Mann eine kleine Säge aus dem Koffer holte und in der anderen Hand eine trübe Flasche hielt.
»Was habt ihr damit vor?«
»Ich habe euch doch schon gesagt Der Zeh muss ab.« Anscheinend bemerkte er seinen entsetzten Gesichtsausdruck noch bevor die Erkenntnis zu Frederick durchdringen konnte, den er setzte mit einem etwas schiefen Lächeln noch hinzu: »Vertraut mir. Ich bin Arzt.«
Er wurde von Bruder Timons starken Händen gepackt und zurück nach unten gedrückt. Irgendjemand den er nicht sehen konnte, lüftete am unteren Ende die Decken, sodass seine Füße frei waren. War er nackt? Natürlich.
Panisch begann er sich hin und her zu werfen. Er wollte nicht, dass dieser Mann an ihm herumschnitt.
»Lasst mich in Ruhe. Es ist doch alles in Ordnung. Ich fühle mich gut.« Eine glatte Lüge. Er fühlte sich schwach. Er kannte dieses Gefühl. Fieber.
»Halt still.«
Es war ein einfacher Befehl. Nicht gebrüllt oder gebellt. Und doch schwang er bedrohlich im Raum. Bruder Timons Hände schlossen sich fester um Fredericks Schultern. »Wenn du Leben willst, dann lassen den Arzt tun, was er tun muss.«
Seine Bewegung erlahmten und er schloss die Augen.
Irgendjemand öffnete mit sanfter Gewalt seinen Mund. Es roch nach Honig, noch bevor die Flüssigkeit seine Lippen benetzte. Frederick nahm noch einen süßlichen Geschmack war, dann wurde sein Mund taub. Es folgten die Gesichtsmuskeln, dann die Arme und breitete sich auch im Rest des Körpers aus.
Er wollte fragen, was es mit dieser Flüssigkeit auf sich hatte, doch seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr.
Die Zeit floss dahin, ohne dass er sagen konnte, ob es Sekunden oder Stunden waren, die vergingen.
Die Menschen um ihn herum unterhielten sich, doch ihre Worte wollten einfach keine Bedeutung entfalten. Immer wieder wurde sein Bein in rhythmischen Stößen nach links und rechts gedreht. Es fühlte sich an wie ein fernes Kitzeln. Kein Schmerz, obwohl er deutlich die Säge des Arztes sehen konnte.
Sie bewegte sich auf und ab. Auf und ab.

Es war ein traumloser Schlaf, einer von der Sorte, die für die Unendlichkeit gemacht waren. Frederick lag in einem Bett und neben ihm saß die Frau des Wirtes auf einem Stuhl. Er wollte etwas sagen, doch heraus kam nur ein Röcheln.
Sie schreckte hoch und starrten ihn einige Sekunden entgeistert an. Dann stand sie auf und lief aus dem Zimmer, ohne auch nur einmal das Wort an ihn zu richten.
Er versuchte seinen Fuß zu bewegen. Er konnte ihn fühlen, doch nicht bewegen.
Und er war unvollständig.
Er konnte es nicht fassen. Sie hatten ihm wirklich seinen kleinen Zeh genommen.
Warum hatte die Mutter das zugelassen? Hatte er nicht alles getan, um sie zufrieden zu stellen, sein Leben in ihre Hand gegeben, um sich den Aufgaben des Ordens zu widmen? War es eine Prüfung? Oder war es seine eigenen Dummheit? Diese Gedanken schwirrten in seinem Kopf, doch er fand keine Antwort.
Und er wusste, dass ihn diese Fragen weiter plagen würden, bis er eine gefunden hatte.
Die Tür wurde geöffnet und der alte Arzt kam hinein, gefolgt von Bruder Timon, der noch missmutiger dreinblickte als beim letzten Mal.
»Wie geht es Euch?«, fragte der Arzt. Frederick versuchte zu antworten, doch wieder kam nichts außer ein röchelndes Husten aus ihm.
Der Mann lächelte milde und flößte ihm aus einem Becher etwas Wasser ein. Es weckte seine Lebensgeister und er spürte, wie sich seine Zunge löste. Der Arzt wiederholte die Frage.
»Gut. Wer seid ihr?«
»Mein Name ist Barey. Barey Tripp. Interessiert Euch gar nicht, ob meine Operation erfolgreich war?« Er zog verwundert eine Augenbraue hoch.
»Ich lebe noch und kann den Fuß spüren«, sagte Frederick. »Danke für Eure Mühen.«
»Es ist meine Pflicht«, sagte Barey bitter, doch sein Lächeln wirkte offen und echt. »Ihr hattet Glück. Es hätte nicht viel gefehlt und die Erfrierungen wären auch auf andere Zehen oder gar den ganzen Fuß übergegangen. Um ehrlich mit Euch zu sein, es ist mir ein Rätsel, warum es nicht geschehen ist.«
»Wird ein dauerhafter Schaden zurück bleiben?«
»Ihr habt einen Zeh verloren.«
Stimmt, dachte Frederick. Das kann man als dauerhaften Schaden werten
»Das meine ich nicht. Wird es mich einschränken?«
»Das Gehen wird Euch einige Zeit komisch vorkommen und ich würde Euch davon abraten Euch eine Zeit lang zu bewegen, doch Euer Freund hier drängt mich schon seit Tagen, Euch zu wecken, dass ihr ziehen könnt.«
»Seit Tagen?« Wie lange hatte er geschlafen? Warum hatte er so lange geschlafen.
»Ich hielt es für das Beste Euch ruhen zu lassen, bis die Verletzung ein wenig abgeklungen war. Vier Nächte und ebenso viele Tage«
Frederick sank ein wenig tiefer in sein Bett. Vier Tage also. Das erklärte den Hunger
»Wir hätten bereits am nächsten Tag aufbrechen können«, sagte Bruder Timon. Seine Stimme war ruhig, doch in seinen Augen blitzte der Zorn.
»Nein, das hätte Bruder Frederick niemals geschafft.«
»Wenn die Güldene es gewollt hätte, dann hätte er es geschafft.«
Frederick blickte an die Decke und ließ das weitere Gespräch der Beiden an ihm vorbeirauschen.
Bruder Timon schien zumindest eine gewisse Achtung vor den Fähigkeiten des Arztes zu haben, sonst würde er sich nicht mit ihm streiten. Und sie stritten noch ein geraume Weile.
Als sie endlich ein Ende gefunden hatten, wandte sich sein Gefährte an ihn.
»Macht Euch fertig. Morgen früh reisen wir ab.« Dann verließ er das Zimmer.
Barey blieb. »Ein interessanter Mann, findet ihr nicht auch?«, sagte er, nicht ohne Belustigung und Sorge in der Stimme.
Er trat wieder an seine Seite, füllte den Becher aus einer Karaffe wieder auf und ließ ihn noch einmal trinken. »Ihr solltet Euch noch schonen. Auch wenn es nur der kleine Zeh war, könnte es schlimme Folgen haben, falls sich die Wunde wieder öffnet.«
»Danke. Doch ich glaube nicht, dass ich die Abreise noch weiter aufschieben kann.« Er erwiderte das Lächeln. »Könnte ich etwas zu essen bekommen?«
»Natürlich. Ich werde sofort nachschauen, was Marduk Euch zaubern kann.«
Barley verließ das kleine Zimmer und Frederick war wieder alleine. Es war nur sehr spärlich eingerichtet. Ein Bett, davor eine Truhe und ein kleiner Tisch samt Stuhl. Alles aus einfachem Holz und bar jeder Verzierung. Er musste sich in einem der Gästezimmer befinden. Seine Kleidung lag gereinigt und gefaltet auf dem Tisch. Von dem Mantel war keine Spur. An der Wand neben dem Bett lehnte eine Krücke, die aussah, als wäre sie eilig aus ein paar Hölzern zusammen gezimmert worden.
Er vertrieb sich die Zeit damit, die Astlöcher an der Decke zu zählen, bis die Tür wieder aufschwang. Siebenunddreißig.
Marduk kam mit einem Tablett hinein und stellte es neben ihn aufs Bett. Es war der gleiche Fettgeruch, wie auch bei seinem Eintopf vor ein paar Tagen, doch die Suppe schmeckte und spendete ihm Kraft.
»Wurde der Krämer noch gefunden?«, fragte er ihn zwischen zwei Löffeln.
»Nein. Sein Stiefel ist alles was wir haben. Sophia ist am Boden zerstört. Doch zumindest die Andacht von Bruder Timon konnte ihr etwas Trost spenden.«
Welch eine Überraschung. Frederick hatte erwartet, dass er mit der Andacht warten würde, bis er wieder auf den Beinen war. So konnte man sich also irren.
»Das freut mich zu hören.«
Marduks Lächeln war bitter, als er fortfuhr. »Dennoch suchen wir jeden Tag nach ihm. Sie möchte die Hoffnung einfach nicht aufgehen. Ich glaube sie wird verrückt bei dem Gedanken, Mann und Tochter in derselben Woche zu verloren zu haben.«
»Lasst Ihr Zeit Marduk. Es war ein schrecklicher Verlust.«
»Vielleicht habt Ihr Recht. Wollt ihr noch eine Schale haben?«
»Nein, vielen Dank. Ich glaube, ich sollte es zu Anfang nicht übertreiben. Es muss auch schon fast Nacht sein, die Sonne ist bereits untergegangen. Ich werde noch ein wenig Lesen und dann ruhen. Habt ihr das Buch gesehen, dass ich bei mir trug?«
»Ich habe es zusammen mit dem Rest in die Truhe gelegt. Soll ich es Euch geben?«
»Nein, nicht nötig. Ich werde es mir selber holen. Danke.«
Marduk verstand die versteckte Aufforderung und verbeugte sich leicht, dann ging er.
Das Tagebuch lag tatsächlich mit seinen anderen Habseligkeiten, einer Umhängetasche, einem Medaillon und anderen Kleinigkeiten, in der Kiste. Er öffnete es, nahm den beiliegenden Kohlestift und begann sich Notizen über die letzten Ereignisse zu machen.
Fehler wiederholen sich nur, wenn man nicht aus ihnen lernt und lernen kann man nur von Dingen, die einem in Erinnerung bleiben, also schrieb er alles auf.

Sie hatte sich wieder in den Schlaf geweint. Die ersten Nächte war es ihr peinlich gewesen, doch nun interessierte es sie nicht mehr, was die anderen dachten.
Sophia wohnte seit der Nacht, in der ihr Mann verschwunden war, in einem der Gästezimmer von Marduks Gasthaus.
Mehrmals hatte sie ihm gesagt, dass es nicht nötig sei, doch er, vor allem jedoch Gulda, hatten darauf bestanden, dass sie blieb.
Sie hatte ihr sogar Nacht für Nacht etwas vorgesungen, damit sie besser schlafen konnte. Manch einer mochte dabei die Augen verdrehen, doch ihr half es, zumindest ein paar Stunden Schlaf zu finden.
Doch heute Nacht konnte sie nicht schlafen. Es lag ein Knistern in der Luft, nicht mehr als eine Ahnung, dass etwas passieren würde.
Ruhelos ging sie in dem kleinen Zimmer auf und ab, noch lange nachdem Gulda und Marduk ihre Versuche aufgegeben hatten, sie zu beruhigen. Sie hatte das Augendrehen des Wirtes sehr wohl gesehen, als er die Tür hinter sich schloss, doch sie wollte es ihm nicht übel nehmen. Auch auf ihm lastete der Verlust seines besten Freundes und doch konnte er nicht trauern, weil er sich um alles kümmern musste.
Sie dachte zurück an die Andacht des Priesters und eine Träne stieg ihr in die Augenwinkel. Sie hätte nie im Leben gedacht, dass ein so grobschlächtiger Mensch wie Bruder Timon, zu solch schönen und hoffnungsvollen Worten fähig wäre, doch er hatte es geschafft, ihr die Trauer ein wenig zu nehmen, wenn auch nur für wenige Stunden. Seither zehrte sie von diesem Gefühl des Trostes und es wurde von Minute zu Minute schwächer.
»Ach, könnte ich doch nur glauben, wie er, dass alles gut wird«, seufzte sie in die Stille hinein und versuchte sich an den seine genauen Worte zu erinnern.
Es war bereits zwei Tage her und die sie wollten einfach nicht haften bleiben, sondern entschwanden immer wieder, sobald sie vor ihrem inneren Auge auftauchten.
Ein Knacken ertönte außerhalb des Hauses und ließ sie aufschrecken. Was war das?, dachte sie. Vielleicht nur ein Ast, der unter der Last des Schnees zerbrochen war. Es war zumindest möglich.
Wieder hörte sie ein Geräusch, doch diesmal klang es mehr nach einem dumpfes Klopfen und kam direkt von den verschlossenen Fensterläden.
Zwei, drei Mal klopfte es erneut, als würde jemand Steine gegen die Bretter werfen. Sophia schluckte und wankte ein wenig benommen hinüber, schob den Riegel auf und öffnete die Läden.
Nichts. Nur ganz leicht zeichnete sich der Schnee gegen die Dunkelheit der Nacht ab. Kein Licht brannte und vor ihrem Fenster stand auch niemand, der Steine hätten werfen können.
Sie schloss die Fenster wieder und sackte auf den Stuhl.
Spielte ihr Kopf ihr etwas Streiche? War es schon so weit um sie geschehen? Sie wusste es nicht.
Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen. Sie vermisste ihre Kleine und ihren Mann. Obwohl es an manchen Tagen nicht leicht mit ihnen gewesen war, würde sie alles tun, um sie wieder zurückzubekommen.
Ihre Nackenhaare richteten sich auf.
»Wirklich alles?«, flüsterte eine Stimme hinter ihr.
Sie fuhr herum. Niemand war zu sehen.
»Was würdest du geben, um noch einmal mit ihnen vereint zu sein?«
Wieder war die Stimme hinter ihr, doch als sie sich in die andere Richtung drehte, war dort schon wieder nichts als gähnenden Leere.
»Wer bist du?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
»Ich bin niemand. Nur ein Freund aus alten Tagen. Erkennst du mich denn nicht?«, frage die Stimme und klang plötzlich so freundlich, so vertraut.
Doch, dachte sie, natürlich. Wie konnte er ihn nur vergessen. Sie nickte.
»Ich will dir helfen. Was würdest du geben, um mit deiner Familie wieder vereint zu sein?«
»Alles«, sagte Sophia mechanisch und rückte voller Erwartung vorne auf die Bettkante. »Zeig sie mir. Bitte.«
»Geh zum Fenster.« Sie gehorchte den Worten und Öffnete die Verschläge.
Ihre Augen weiteten sich kaum.
Dort unten standen sie, Hand in Hand und ganz in weiß. Maggie lachte und winkte sie zu sich, ihr Mann nickte bekräftigend. »Uns geht es gut. Komm zu uns.«
Sie drehte sich um, um zu gehen, doch eine unsichtbare Kraft hielt sie zurück.
»Willst du mir einen Gefallen tun, um zu ihnen zu gehen?« Sie nickte. »Gut, dann gehe und töte den Priester. Er will verhindern, dass du und deine Familie glücklich sind.«
Sie stockte. Die Worte hörten sich richtig an, doch etwas in ihr ließ sie zögern.
»Können wir nicht einfach davon laufen?«, fragte sie.
»Er würde euch verfolgen und töten.«
»Aber warum? Was haben wir ihm denn getan?«
»Er denkt, ihr seid es nicht würdig zu leben. Er meint, ihr seid nicht gläubig genug. Ich habe ihn belauscht als er es sagte. Du musst es tun, um euch alle zu retten.«
Sie schluckte. Es stimmte, dass spürte sie.
»Aber wie kann ich ihn töten?«
»Hiermit.« Wie durch eine unsichtbare Hand wurde ihr Blick aufs Bett gelenkt.
Ein schimmerndes Messer lag genau dort, wo sie eben noch gesessen hatte.
Sie verstand und nahm es. Mit starren Blick öffnete sie die Tür.
Alles war ruhig. Sie wusste, wo sie hin gehen musste. Oft genug hatte sie den Priester in den letzten Tagen Gebete rezitieren hören.
Seine Tür war nicht verschlossen. Es war ein Zeichen, dass das was sie nun tun wollte, richtig war.
Im Gegensatz zu den anderen Türen knarrte diese nicht.
Noch ein Wink, dass es richtig war.
Dort lag er, wie ein Stein, auf der dünnen Matratze.
Er sah so friedlich aus. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam unter der Decke.
Sie stand neben ihm und hob das Messer über ihren Kopf.
Sie zögerte. War es wirklich richtig? Ja. Sie würde ihre Familie wiederbekommen und sie würden sicher sein. Sicher vor diesem Mann.
Die Klinge schnellte nach unten und traf das Fleisch. Rotes Blut spiegelte sich in ihren Augen.
»Was tust du?«
Ihr stockte der Atem. Wieso war der Priester nicht tot? Das Messer steckte in seiner Brust.
Sie taumelte zurück und der Stahl glitt aus der Wunde. Der Priester keuchte, dann sprang er auf, packte sie bei den Armen und drückte sie gegen die Wand.
»Lass mich los. Monster«, schrie sie, doch der Druck lockerte ließ nicht nach.
»Warum hast du das getan?«, fragte Bruder Timon sie noch einmal. Sophia antwortete ihm nicht.
Sie versuchte sich seinem Griff zu entwinden. Er musste bald die Kraft verlieren, die Wunde an seinem Arm blutete stark. Sie musste etwas Wichtiges getroffen haben. Vielleicht konnte sie ihren Auftrag doch noch zu einem guten Ende bringen.
Sie konnte spüren, wie er mit jeder Sekunde schwächer wurde, während sich unter ihm langsam eine rote Pfütze bildete. Seine Hände begannen zu zittern, ebenso wie seine Stimme, als er die Frage noch einmal wiederholte.
Es hieß jetzt durchhalten.
»Du wirst meine Familie nicht töten.« Sie stieß erneut zu und traf etwas, spürte aber gleichzeitig, dass die Klinge nicht richtig in den Körper eindrang, sondern an etwas hartem abprallte.
Bruder Timon stöhnte und wankte, doch noch immer hielt er sie fest. Seine Lippen bewegten sich, doch sie hörte nicht was er sagte, zu sehr war sie in einem Rausch gefangen. Wieder und wieder stieß sie zu, ohne zu wissen, ob sie traf oder nicht.
Die Tür flog auf. Sie kannte diese Umrisse, diesen Körper und die vor Schreck geweiteten Augen. Marduk? Richtig. Es war Marduk, ihr Freund. Er würde ihr helfen.
»Hilf mir Marduk. Er will mich töten und Himbel und Maggie auch.« Ihre Stimme war verzerrt und sie lachte wahnsinnig, während das Messer wieder und wieder auf den gewaltigen Körper zu zuckte. »Er wird mich töten.«
Ihr Lachen wurde hysterisch.
»Was ist hier los?« Marduk stand einige Sekunden starr vor Schock in der Tür.
Dann riss er sich aus seiner Starre und eilte auf sie zu.
»Jetzt ist es vorbei. Wir sind gerettet«, jauchzte Sophia und richtete ihren Blick dankbar zu Marduk.
Der Wirt packte sie und presste sie weiter gegen die Wand. Mit Tränen in den Augen drückte er sie immer weiter nach unten. »Wir werden dir helfen. Sophia, das verspreche ich.
Verwirrung stand in ihren Augen. Warum? Warum half er ihr nicht? Wollte er denn, dass sie starb?
Das Messer fiel zu Boden. Was war hier los?
Sie hörte ein Lachen, weit hinten in ihrem Kopf. Es war ein böses, altes Lachen, dann war alles stumm.
Sie glitt zu Boden, kraftlos, hoffnungslos. Ohne Gegenwehr ließ sie sich fesseln. Sophia sah, wie der Priester nach vorne kippte und von Marduk aufgefangen und auf das Bett gelegt wurde.
Sie saß auf dem Boden, Hände und Füße vertäut.
Der Arzt kam. Seine Augen weiteten sich, als er den Priester sah. Vielleicht hatte sie es ja doch geschafft. Vielleicht war dann wenigstens ihre Familie in Sicherheit. Wieso sollte sie in Sicherheit sein? Ihre Familie war doch tot. Wieso glaubte sie, sie beschützen zu müssen. Wieso hatte sie den Priester getötet?
Ihr Blick verschwamm vor Tränen. Wieso hatte sie ihn nur getötet?

Jemand rüttelte ihn kräftig. Frederick erwachte und blinzelte. Eine Laterne wurde ihm ins Gesicht gehalten.
»Bei der Güldenen. Was ist denn los?«, fragte er und versuchte sich den Schlaf aus den Augen zu reiben.
»Kommt mit. Bruder Timon ist verletzt.« Schlagartig war er wach.
»Was ist passiert?«
»Sophia hat ihn mit einem Messer im Schlaf angegriffen. Es sieht nicht gut aus.«
Frederick hielt mitten in der Bewegung inne. »Warum sollte sie das tun?«
»Wenn ich das nur wüsste«, sagte die Stimme und endlich nahmen die Konturen klarerer Linien an und er erkannte Gulda.
Merkwürdig, dachte Frederick. Er hätte schwören können, dass sich ihre Stimme eben noch männlich angehört hatte. Der Schlaf spielt einem manchmal Streiche, doch darüber konnte er sich später immer noch Gedanken machen.
Sie reichte ihm die Krücke, dann eilten sie, seinen Umständen entsprechend, zu dem Zimmer des anderen Priesters.
Es war ein schrecklicher Anblick.
Bruder Timon lag, blutüberströmt und kreidebleich auf seinem Brett. Seine Lippen zitterten und er keuchte Worte in einer alten Sprache.
»Wie geht es ihm?« Frederick wandte sich an Doktor Barey Tripp, der über ihn gebeugt dastand und sich an seinen Wunden zu schaffen machte.
»Keine Fragen. Muss arbeiten« Auf seinem Gesicht lag ein verbissener Gesichtsausdruck und er beugte sich noch tiefer über den Körper.
Sophia saß gefesselt auf dem Boden. Ihr Blick ging ins Leere und auf ihren Lippen lag ein seliges Lächeln. Er kannte diesen Blick, hatte ihn oft genug selbst gesehen.
Wahnsinn.
Purer, reiner Wahnsinn. Ab und zu kicherte sie.
Für Bruder Timon konnte er nichts tun. Also setzte er sich auf den einzigen freien Stuhl im Zimmer und wedelte vor ihr mit seiner Hand umher. Keine Reaktion. Sie regierte auch nicht, als er sie mit der Spitze seines Messers in die Finger stach.
»Ihr Geist hat sie verlassen«, murmelte er. »Nichts weiter als eine Hülle.« Er drehte sich um und sah besorgt zu, wie Barey sein Werk verrichtete.
Bitte güldene Mutter, dachte Frederick. Berufe diesen sturen Bock noch nicht an deine Seite. Wenn du es nicht für ihn tun willst, so wenigstens für mich, denn mein Leben ist mit seinem verwoben.
Er wusste nicht, ob sie sein Gebet erhören würde, doch er wollte sich hinterher nicht vorwerfen lassen, er hätte nicht alles versucht.
»Haltet Eure Hand hier drauf«, sagte der Doktor und riss ihn aus seinen Gedanken.
»Wie bitte?«
»Wenn Ihr mir keinen Eurer Finger leihen könnt, dann verschwindet, ansonsten legt ihn hier rauf.« Mit einem Zucken des Kinns deutete er auf die Stelle, wo seine Hand gerade damit beschäftigt war, Stoff auf eine der Wunden zu drücken.
Es war bereits durchtränkt und an den Rändern sickerte das Blut hindurch.
Frederick nickte. Er drückte so stark er konnte.
»Es blutet immer noch.«
»Das habt Ihr gut erkannt.«
»Könnt Ihr es nicht stoppen?«
»Was glaubt Ihr, versuche ich hier gerade?«
»Er darf nicht sterben.«
»Wenn Ihr die Klappe haltet und mich meine Arbeit tun lasst, dann wird er es vielleicht auch nicht. Aber ich kann nichts versprechen.« Tonfall und Worte waren eindeutig und Frederick tat wie ihm geheißen.
Ein einziger Mensch konnte doch unmöglich so viel Blut im Körper haben, geschweige denn so viel davon verlieren und dann einfach wieder aufstehen und… nun ja, leben. Er schluckte.
Es war ein schönes Leben gewesen, er hatte die Welt gesehen, war seiner Berufung gefolgt. Was wollte er schon mehr.
Tausend Feuerameisen in meinen Adern, dachte er. Er wollte noch nicht sterben und Bruder Timon würde es auch noch nicht.
Noch einmal erhöhte er den Druck und lehnte jetzt mehr auf dem bulligen Körper, als das er noch auf dem Boden stand.
»Wollt ihr durch ihn hindurch drücken?« Bareys Hand zog ihn sanft, aber bestimmt wieder auf seine Füße. »Ihr könnt loslassen, die Kräuter wirken. Die Blutung hört auf.«
Tatsächlich, dachte er. An der Seite des Tuchs trat kein neues Blut mehr hervor und die Burst hob und senkte sich regelmäßiger.
Schwach, aber er atmete.
Selbst zum Ableben zu störrisch. Typisch.
Frederick lächelte das Lächeln eines Siegers. Eigentlich war er nur kein Verlierer, doch das waren Detailfragen, um die er sich zu einem späteren Zeitpunkt kümmern würde.
»Was jetzt?«
»Wir warten. Euer Freund hat viel Blut verloren. Wenn er die nächsten Tage übersteht, dann gibt es zumindest die Möglichkeit, dass er überlebt.
»Er muss Leben. Versteht ihr? Tut alles, was ihr könnt.« Barey wandte sich endgültig von seinem Patienten ab und musterte ihn eingehend.
»Er scheint Euch ziemlich wichtig zu sein.«
»So könnte man es nennen.«
Frederick wollte gewiss auch aus anderen Gründen, dass er weiter lebte. Er war ein Mensch und jeder Mensch war nun einmal in den Augen der güldenen Mutter wertvoll, doch sein persönliches Leben wog auf der Liste der Gründe deutlich schwerer als die kirchliche Agenda.
» Ich verstehe. Ich sehe, ob ich noch etwas für ihn tun kann. Was ist mit Sophia? Ich habe so etwas noch nie gesehen.« Sein wissendes Lächeln erstarb, als er sich wieder der Frau zuwandte.
»Der Verlust von Mann und Kind muss sie schwerer getroffen haben als geglaubt. Ich glaube sie ist wahnsinnig geworden und aus irgendeinem Grund hat sie Bruder Timon die Schuld dafür gegeben.«
Er begann auf seiner Unterlippe zu kauen. Das passte doch alles nicht zusammen. Ja, es war möglich, dass man von einem auf den anderen Zeitpunkt dem Wahnsinn anheimfiel, doch nach allen, was er wusste, war das sehr selten.
»Hat sie etwas gesagt, bevor ich ins Zimmer kam?«
»Als ich herein kam, war sie schon so, wie sie jetzt ist. Marduk hat die beiden gefunden und mich dann rufen lassen.«
»Ich verstehe. Man sollte sie in ein anderes Zimmer bringen.«
»Warum? Glaubt ihr sie ist noch gefährlich? Sie ist doch gefesselt.«
»Nein, aber sie ist immer noch ein Mensch. Ein kranker Mensch, wenn Ihr es genau wissen wollt. Bringt sie bitte in ein anderes Zimmer und fixiert sie in ihrem Bett.«
»Wenn Ihr meint, dass es hilft«, sagte Barey.
Und so jemand nennt sich Doktor, dachte Frederick. Hat wahrscheinlich noch nie etwas von den seelischen Abgründen gehört und wie sie auf den Geist einer Person drücken können.
Er klemmte sich die Krücke wieder unter den Arm und humpelte aus dem Zimmer und, unter starker Anstrengung die Treppe nach unten in den Schankraum.
Marduk stand mit seiner Frau am Tresen, beide hatte verquollene Augen und blickten erst auf, als er direkt vor ihnen stand.
»Wie geht es Bruder Timon?”, fragte Gulda mit einem Schluchzer. Der Schock stand ihr noch ins Gesicht geschrieben. Er hatte es eben gar nicht erkannt, als sie ihn geweckt hatte oder vielleicht war es da auch noch nicht zur Gänze zu ihr durchgedrungen.
»Er lebt. Der Doktor sagt, mehr wissen wir erst in ein paar Tagen. Vielleicht überlebt er, vielleicht auch nicht. Hat Bruder Timon zu Euch irgendetwas gesagt, Marduk?« Der Wirt schüttelte den Kopf.
»Er nicht. Stand einfach nur da, als ich ins Zimmer kam und hielt sie gegen die Wand gepresst. Hatte Schreie gehört. Sophias Schreie, sie rief um Hilfe. Tat sie auch noch, als ich rein kam, aber sie lachte dabei so merkwürdig, würde sagen wahnsinnig, wenn ich sie nicht kennen würde.«
»Sie ist wahnsinnig. Was hat sie gesagt?«
»Das war ja das Komische. Ich meine, sie sagte, der Bruder wolle ihre Familie töten und auch sie. Sie wollte, dass ich sie rette und stach immer wieder auf ihn ein.«
»Sonderbar«, sagte Frederick. »Ist Euch sonst noch etwas aufgefallen?«
»Nur, dass sie von der einen auf die andere Sekunde plötzlich still geworden ist. Hat sich nicht mehr gewehrt. Armes Ding. Wird sie wieder?«
»Nein, ich glaube nicht. Mir ist kein Fall des Wahns bekannt, bei dem es geheilt wurde. Vielleicht ist der hier anders, doch das glaube ich nicht.«
Tränen bildeten sich in den Augenwinkeln von Marduks Gesicht und kullerten langsam die Wange hinunter. Gulda begann zu schluchzen, doch bei ihr konnte er keinen Tränen entdecken, wahrscheinlich waren keine mehr übrig, die sie weinen konnte. Sie taten ihm leid, doch er konnte nichts für sie tun.
»Die Güldene sei mit Euch«, sagte er stattdessen und legte ihnen die Arme und die Schultern. Ein schwacher Trost, bei allem, was diese guten Leute durchgemacht hatten. Innerhalb kürzester Zeit waren zwei ihrer Freunde verstorben und eine dem Wahnsinn anheimgefallen.
Was konnte es Schlimmeres geben? Zumindest hatten sie sich selbst noch.
»Kann ich Euch etwas zu essen anbieten?«, fragte ihn der Wirt plötzlich. Frederick blickte ihn verwirrt an. »Nein, nicht doch. Ich werde mir selbst etwas holen, wenn es gestattet ist.«
»Nein, ist es nicht«, sagte er und schniefte leicht. »Ihr seid immer noch mein Gast und mir soll nicht nachgesagt werden, ich sei ein schlechter Gastgeber.«
Er schob Frederick zu einem Stuhl und er sah sich gezwungen, sich zu setzen. Wenige Minuten später kam Marduk zurück.
Wieder gab es Suppe, doch was hatte er auch erwartet. Dass er ihm mitten in der Nacht ein Festmahl zubereitete? Nein, er war dankbar für das, was er bekam.

Das Kloster

Die Tage zogen träge dahin. Der Himmel war klar und die Luft war kalt.
Fredericks Fuß ging es immer besser, obwohl er ab und an glaubte, seinen kleinen Zeh noch spüren zu können.
Bruder Timon hingegen hatte nicht einmal seine Augen aufgeschlagen, doch der Doktor meinte, auch ihm ginge es von Tag zu Tag besser. Er hoffte, dass es stimmte.
Vielleicht würde die Kirche nach ihnen suchen und wenn sie ihn hier fanden, weit außerhalb des zentralen Machtbereichs, mit seinem Wächter bewusstlos und schwer verwundet, dann würde es egal sein, wie viele der Dörflern für ihn bürgten.
Aber was machte er sich Sorgen. Es würde noch Wochen, wenn nicht gar Monate dauern, bis die Kirche von ihrer Verspätung Notiz nahm.
Vielleicht sollte er jemandem eine Nachricht senden. Es gab hier zwar keine Boten, doch Lukas, ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, hatte sich erboten zum nächsten Dorf zu reiten und neue Verbände zu kaufen.
Wenn er es geschickt anstellte, konnte er ihn vielleicht überreden, auch noch ein wenig weiter zu reiten, bis er einen Boten fand, der die Nachricht nach Kyla bringen konnte.
Und was sollte er schreiben?

Oh, Tochter der Güldenen! Oh, Vorsteher der Orden!
Es schmerzt mich, Euch davon in Kenntnis zu setzen, dass Bruder Timon von einer wahnsinnigen Frau erdolcht wurde und sich daher unsere Ankunft in den heimischen Hallen verzögern wird.
Der güldenen Mutter zum Dienste
Bruder Frederick vom Stein

Das würde sie wohl kaum davon überzeugen, ihn am Leben zu lassen.
Nein, er musste einfach überleben. Hoffentlich behielt Barey recht und sein Zustand verbesserte sich wirklich.

Stunde um Stunde saß Frederick an Bruder Timons Bett und beobachtete das Zucken unter den geschlossenen Lidern. Träumte er? Hatte er Schmerzen? Ansprechbar war er nicht, Frederick hatte es oft genug versucht und nichts dabei erreicht.
Zumindest stanken seine Wunden nicht mehr. In den ersten Tagen hatte Barey noch gedacht, er hätte die Fäule und er würde sterben. Der Güldenen zum Dank hatte er sich geirrt, sodass Fredericks Sorgen über die Tage immer geringer wurden.
Zumindest was Bruder Timon anging. Sophias Zustand hingegen schien sich im gleichen Maße zu verschlimmern, wie sich der seines Begleiters besserte. Die ersten Tage hatte sie auf ihrem Bett gelegen und mit einem abwesenden Lächeln an die Decke gestarrt.
Dann wurde es schlimmer.
Sie begann zu schreien und sich hin und her zu werfen.
Die Seile gruben sich tief in ihre Haut und sie hatten die Gelenke bandagieren müssen, damit sie nicht ausblutete.
Am schlimmsten nahm es Gulda mit. Sie war ihre beste Freundin und wachte jeden Abend an ihrem Bett und gab ihr Essen und Trinken. Wenn er sie am nächsten Morgen beim Frühstück sah, hatte sie blutunterlaufene Augen und ihr Blick war verschleiert, als hätte sie nicht geschlafen.
Er saß gerade bei einem Becher Tee mit Marduk zusammen und spielte Karten. Das Spiel hieß Tulpen. Frederick kannte es nicht, doch laut Marduk ging es darum, möglichst viele der namensgebenden Tulpen auf seine Hand zu bekommen. Durch geschicktes tauschen, ziehen und betrügen. Er verlor jede Runde.
»Das Glück ist mit den Dummen«, sagte Marduk und zwinkerte ihm zu.
»Ihr scheint mir gar nicht so dumm zu sein. Eher verschlagen.« Er mochte den Wirt und sie hatten sich über die letzten Tage angefreundet.
»Dann ist das Glück wohl mit den Verschlagenen.«
»Wird wohl so sein. Hat Barey gesagt, wann Bruder Timon wieder auf die Beine kommt?«
»Nur das es ihm immer besser geht. Doch er konnte nicht sagen, wann er wieder aufwacht.«
»Ich hoffe bald. So gern ich auch in Hestar weile, wir müssen weiter.«
Marduk sah ihn einen Augenblick lang enttäuscht an, dann grinste er wieder. »Ich dachte, Ihr lasst Euch hier nieder.«
»Das wäre Euch wohl recht. Dann hättet ihr jemanden, den ihr beim Spielen die letzte Kupferscheibe aus der Tasche ziehen könntet.« Er warf die Karten vor ihn auf den Tisch und seufzte.
Sie waren alleine im Schankraum. Die anderen Dörfler waren wieder dazu übergegangen ihr Leben zu leben, wie sie es auch vor dem Unglück getan hatten. Der Schmerz saß noch immer tief und würde es auch noch eine ganze Weile tun. Vor allem solange Sophia noch unter ihnen war.
Doch die guten Leute des Nordens wussten, wahrscheinlich besser als jeder andere, dass das Leben weiterging, egal was es einem in den Weg warf.
Frederick hatte beschlossen seinen Teil beizutragen und Sophia mitzunehmen, wenn sie weiterzogen. Man würde sich ihrer in einem Kloster annehmen.
»Ich denke ich werde mit ein wenig die Beine vertreten. Der Doktor meinte es würde mir gut tun.«
»Soll ich Euch begleiten?«
»Nein. Bleibt ruhig hier. Keine Sorgen, ich laufe schon nicht weg. Allzu weit würde ich eh nicht kommen und Ihr müsst mir noch die Gelegenheit geben, mein Geld zurückzugewinnen.«
Er lachte. »Welches Geld meint Ihr? Das von heute oder gestern?«
»Das von vorgestern.«
Er stand auf und klemmte sich die Krücke wieder unter die Achsel. Er konnte sich inzwischen recht gut mit ihr bewegen und der anfängliche Schmerz, wenn das Holz gegen seinen Körper drückte, war einem unangenehmen Drücken gewichen, das er ausblenden konnte, wenn es zu sehr störte.
Der Wind ließ seinen Mantel, eine Leihgabe von Marduk und ihm viel zu groß, leicht aufwallen und warf sich gegen seinen Körper. Vielleicht kommt ein neuer Sturm, dachte er. Bitte nicht. Wir müssen dringend weiter.
Den Oberkörper leicht gegen den Wind gestemmt, humpelte er den Weg entlang.
Bei seinem gestrigen Ausflug hatte er etwas auf der Landzunge gesehen, die im Nordosten des Dorfes in den See hinein ragte. Marduk meinte bloß, es sei eine alte Klosterruine, doch niemand konnte ihm näheres erzählen.
Sie mieden diesen Ort und wussten selbst nicht warum.
Fredericks Neugier war geweckt.
Vielleicht gab es dort alte Schätze zu finden oder Wissen zu sammeln. Und kein Bruder Timon, der ihn daran hindern konnte, das was er fand, auch zu lesen und zu verstehen. Schade nur, dass er seine Schaufel im Gasthaus lassen musste.
Die Sonne stand bereits hoch im Süden und schien mit ihrer gesamten Kraft, konnte gegen die Eiseskälte trotzdem nicht bestehen. Es war einfach nicht ihre Zeit.
Im nächsten Jahr, wenn der Zyklus vom Neuen begann, würde sie sich an allem Kalten und Gefrorenem rächen und im Winter würde sie sich zurückziehen, um neue Kraft für den Kampf zu sammeln.
So war es schon immer gewesen und würde es immer sein.
Von der Straße aus, führte ein kaum noch zu erkennender Pfad hinauf zum Kloster. Er folgte ihm und schon bald bereute er meine Entscheidung.
Die Wunde begann wieder zu schmerzen. Warum war er nicht im Gasthaus geblieben? Tolle Entscheidung Frederick, dachte er. Du und deine verdammte Neugier.
Aber so groß auch die Schmerzen waren, sein Verlangen nach Wissen war größer. Würde er sich trauen, er hätte Bruder Timon den Schlüssel für die Reisetruhe abgenommen und würde in dem Wissen baden, dass sie auf ihrer Reise gerettet hatten.
Doch er ging lieber den steilen Anstieg mit verletztem Fuß empor, schließlich konnte es sein, dass er gerade in dem Moment erwachte, wenn er mit dem Schlüssel in der Hand vor seinem Bett stand.
Nein, dieses Risiko wollte er… konnte er einfach nicht eingehen.
Es blieb ihm also keine anderer Wahl, als den beschwerlichen Weg auf sich zu nehmen, um seinen Durst zu stillen.
Die Sonne hatte sich ein gutes Stück weiterbewegt. Es war dieser verdammte Winter. Die kurze Zeit, so nannten es manche zu Hause in Kyla und sie hatten Recht. Dennoch musste er lächeln.
Er hatte sein Ziel erreicht oder besser gesagt, er konnte es sehen.
Marduk hatte untertrieben. Es war nicht bloß eine kleine Klosterruine, sondern eine gesamte Anlage, in dessen Zentrum ein riesiges Gebäude stand. Frederick vermutete, dass es sich um eine Kirche oder gar Kathedrale gehandelt haben musste.
Er hätte von unten niemals vermutet, dass es hier oben so viel Platz geben würde, doch die bis hierhin recht schmale Landzunge, dehnte sich am Ende zu einem großen Plateau aus. Es konnte unmöglich auf natürlichem Wege entstanden sein.
Sein Lächeln wurde breiter. Irgendwer hatte diesen Ort nach seinem Willen erschaffen und vielleicht gelang es ihm, herauszufinden wie.
Sein Fuß stieß gegen etwas. Es war nur eine leichte Berührung, doch es reichte und der Schmerz entbrannte von Neuem.
Er schwanke und sein Blick verschwamm. Als sich der Schmerz wieder legte, sah er gerade noch, wie ein roter Lederball in einem der Gebüsche am Rande der Landzunge verschwand.
Merkwürdig, dachte Frederick. Was macht dieses Ding so weit weg vom Dorf.
Die kleine Maggie kam ihm in den Sinn. War sie hier oben gewesen? Lebte sie vielleicht doch noch und versteckte sich in den Ruinen? War sie vielleicht verletzt?
Er lauschte, doch nichts war zu hören.
»Maggie«, rief er. Doch nur der Wind antwortete.
Er rief noch einmal, mit dem gleichen Ergebnis.
Frederick ging zu dem Gebüsch, bückte sich und griff nach dem Ball. Ein Ast knackte hinter ihm.
Er drehte mich um. Die Stelle, an der sich noch vor wenigen Tagen ein Zeh befunden hatte, schmerzte so stark, dass er die Zähne zusammenbeißen musste. »Maggie bist du das?«
Doch sie war es nicht.
Es war niemand.
Er musste sich das Geräusch eingebildet haben, doch er wurde das ungute Gefühl nicht los, nicht länger alleine zu sein.
Langsam näherte er sich den Gebäuden.
Wenn es die Möglichkeit gab, dass das Mädchen noch lebte, auch wenn sie noch so klein war, dann musste er sie finden.
Die Schmerzen in seinem Zeh wurden mit jedem Schritt immer stärker.
Er überschritt die alte Mauergrenze und es war, als würde etwas über ihn hinweg gleiten. Es war nicht greifbar, nicht einmal erklärbar und dennoch spürte er, dass es da war.
Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu.

Das letzte, an das sich Timon erinnerte war, dass Sophia mit dem Messer auf ihn losging und er sie an die Wand presste. Danach war alles schwarz.
Er musste bewusstlos geworden sein.
Oder war er tot?
Er blickte sich um.
Nein, tot war er nicht. Dies hier war immer noch das Gasthaus in Hestar und nicht das Paradies.
Was für eine Enttäuschung, wenn das, was er zu erreichen sehnte, sich als ein Haus in der Provinz herausstellen würde. Er wollte gar nicht weiter darüber nachdenken.
Mit zusammengepressten Kiefern stand er auf. Es tat höllisch weh, doch er schaffte es. Er konnte jeden einzelnen Stich, jeden Schnitt spüren, wo das Messer seinen Körper getroffen hatte.
Etwas fiel klirrend zu Boden. »Ihr seid ja wach. Legt Euch wieder hin, oder die Wunden gehen wieder auf. Das hat der Barey gesagt.«
Kleine, fast schon zierliche Hände versuchten ihn wieder ins Bett zu drücken. Normalerweise wäre es für ihn beinahe schon lächerlich einfach gewesen, dem Druck zu widerstehen, doch ob es nun an seinen Verletzungen lag oder an dem Hunger, er schaffte es nicht und musste sich geschlagen geben. »Ich hole Barey. Bleib bitte liegen, ja?«
Jetzt erst erkannte er die Frau wieder. Es war Gulda, die jetzt hastig davon eilte und noch im Laufen anfing, nach dem Arzt zu rufen.
Timon betastete seinen Körper und verzog das Gesicht. Er spürte etwas Feuchtes an einer der Wunden. Sie blutete. Diese wenigen Bewegungen hatten schon ausgereicht.
Danach zu urteilen, würde es Wochen dauern, bis er wieder reisefähig wäre. Er wusste, dass es das Richtige war, hier zu bleiben, bis er wieder vollständig genesen war, doch er wusste auch, was das bedeuten würde.
Noch mehr Dienst am Volk. Er konnte es nicht leiden und doch würde er es tun, weil es das Richtige war und die güldene Mutter es verlangte.
Doch er würde innerlich jeden dieser guten Menschen hier verfluchen und sich schwören, nie wieder dieses Dorf zu besuchen. Was war er denn? Einer der helfenden Hände?
Nein, er war stolzes Ordensmitglied der Archivare, jener Organisation innerhalb der Kirche, die streng darauf achtete, dass das verlorene Wissen nur für die richtigen Dinge eingesetzt wurde.
Das Knarzen der Tür, riss ihn aus seinen Gedanken. »Hatte Gulda also Recht und Ihr seid wirklich wieder wach. Wie fühlt ihr Euch?”, fragte Doktor Tripp und machte ein besorgtes Gesicht, als er den roten Fleck sah, der sich langsam auf dem Verband ausbreitete.
»Es geht. Danke, dass Ihr Euch so gut um mich gekümmert habt. Wann kann ich wieder reisen?«
»Es wird noch einige Wochen, wenn nicht gar Monate dauern. Es wäre ein zu großes Risiko, Euch nun wieder auf die Wege zu schicken. Das nächste Dorf ist mehr als zwei Tagesmärsche entfernt und die nächste Stadt liegt noch deutlich weiter südlich.«
Er hatte es geahnt. Doch Monate würde er niemals im Leben noch in diesem Örtchen verbringen. Eher nahm er die Gefahr in Kauf, dass alle Wunden wieder aufplatzten.
Innerlich gab er sich selbst noch zwei Wochen, doch dem Arzt nickte er nur zu. Doktor Barey Tripp brauchte nicht alles zu wissen.
»Wo ist Bruder Frederick? Ich muss ihn sprechen.«
»Da müsst Ihr warten. Marduk meinte, er sei zu einem Spaziergang aufgebrochen. Es wird wahrscheinlich bald wieder kommen, schließlich wird es schon bald Abend.«
Timon richtete sich halb wieder auf, doch der Arzt drückte ihn wieder ins Bett. »War er an unserem Wagen?»
»Nicht das ich wüsste. Doch ich kann fragen, wenn Ihr wollt?«
»Bitte tut das.« Der Doktor runzelte die Stirn, ging aber und kehrte nach wenigen Minuten schon wieder zurück.
»Marduk meinte, dass er sich nicht einmal erkundigt habe, wo Euer Karren steht.« Timon wurde ein wenig leichter ums Herz. Es würde die Situation in Hestar nicht verbessern, wenn er gezwungen sein würde, Frederick hinzurichten.
»Wo ist er dann hin? Das Dorf ist nicht sonderlich groß.«
»Marduk meinte, er wollte sich die alte Ruine anschauen, oben auf der Landzunge.«
Sofort verdüsterte sich Timons Blick wieder. »Was für eine Ruine?«
»Das weiß niemand so genau. Manche sagen, er handelt sich um ein altes Kloster, andere meinen es sei eine Burg. Schon sonderbar. Bis vor zwei Wochen hatte ich ganz vergessen, dass sie existiert.«
Würde Bruder Frederick ihm vorenthalten, was er dort oben fand? Wenn ja, bliebe ihm nichts anderes übrig, als seine Pflicht zu erfüllen.
»Könntet Ihr jemanden schicken, um nach ihm zu suchen? Es wäre wichtig, dass ich ihn möglichst schnell spreche.«
Die Stimme des Arztes klang skeptisch, doch in seinen Augen war der erste Funke von Neugier entflammt. »Wenn Ihr es wünscht, werde ich das natürlich tun. Wisst Ihr was, ich gehe selbst. Es wird mir gut tun, ein wenig meine Beine zu vertreten.«
Barey war schon drauf und dran, das Zimmer zu verlassen, als Timon noch eine weitere Frage in den Sinn kam. »Wie geht es der Frau, Sophia, die mich angegriffen hat? Ist sie tot?«, fragte er.
Der Blick des Arztes verdunkelte sich und er schüttelte leicht den Kopf. »Nein, doch ich wünschte, sie wäre es. Es wäre besser für sie und ihre Seele«, sagte er und ging.
Das warf mehr Fragen auf, als es beantwortete und er nahm sich vor, beizeiten nach der Frau zu sehen.
Was hatte sie gesagt, als sie auf ihn einstach? Es wollte ihm nicht mehr in den Sinn kommen, doch es würde ihm sicherlich wieder einfallen, wenn er so weit war, sie zu besuchen.
Jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als abzuwarten, bis Frederick zurück kam.

Das Gelände war größer, als er es erwartet hatte. Die Ruinen verrieten, dass hier einst imposante Gebäude gestanden hatten.
Vielleicht entstammen diese Bauwerke den Alten, dachte Frederick.
Er hatte eine solche Bauweise noch nie gesehen. Alles schien dem Zweck untergeordnet zu sein und doch wiesen die sichtbaren Strukturen eine gewisse Eleganz auf, die ihn staunen ließen.
Es stand im unverblümten Gegensatz zu den Protzbauten der heutigen Zeit und verhöhnte selbst die herausragensten Architekten und ließ sie »allesamt wie unfähige Lehrlinge wirken.
Zuerst war Frederick die einzelnen Gebäude abgegangen und hatte gerufen und gehorcht, doch Maggie hatte nicht geantwortet. Schließlich hatte er eingesehen, dass sie nicht hier war.
Doch sie musste dort gewesen sein, zumindest dann, wenn der Ball ihr gehörte. Frederick beschloss, Marduk später danach zu fragen.
Dann hatte er sich daran gemacht, den Ort genauer zu untersuchen.
Innerhalb der Mauern gab es vier Gebäude.
Das Erste, direkt an der Mauer, schien als Vorratslager angelegt zu sein, zumindest wenn man nach den fast zu Staub zerfallenen Regalen und Schränken urteilte, die sich im Inneren des ansonsten sehr gut erhaltenen Bauwerks befanden.
Ganz allgemein waren die Bauwerke in erstaunlich gutem Zustand, dafür, dass Marduk von einer Ruine gesprochen hatte. Alleine die äußere Mauer war vom Zahn der Zeit gnadenlos geschliffen worden und kaum noch erkennbar.
Das zweite Gebäude, größer als das Erste, doch um ein Vielfaches kleiner als die Kirche, hatte den Bewohnern wohl als Schlafstätte gedient. Frederick konnte noch die Überreste einiger Bettgestelle erkennen, als er die geräumige Halle durchschritt und nach verborgenen Schätzen Ausschau hielt.
Neben der Kirche stand das merkwürdigste Gebäude, wenn es denn überhaupt eines war. Es war zugleich auch das beeindruckendste.
Eine perfekte Halbkugel aus Stein, vielleicht fünf Schritt im Durchmesser. Zuerst hatte Frederick gedacht, es sei ein Kunstwerk oder Huldigungsobjekt, doch als gegen den Stein klopfte, klang es hohl.
Es waren keine Rillen oder Verbindungsstücke zu erkennen, sondern nur glatter Stein, als wäre die Kuppel aus einen Stück gefertigt. Doch auch hier, keine Spuren von Meißel oder Hammer.
Es wirkte fast so, als wäre dieses Bauwerk aus dem Boden gewachsen. Was mochte sich wohl im Inneren befinden?
Die Dunkelheit war schneller über den Platz hereingebrochen, als es Frederick erwartet hatte. Der Wind pfiff durch die offenen Fenster der Gebäude und erzeugte ein unheimliches Musikstück, dass ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
Und dennoch, obwohl er es sich fest vorgenommen hatte, wollte er noch nicht gehen. Es war beinahe so, als habe ihn dieser Ort in seinen Bann geschlagen.
Seine Gedanken kreisten um das Wissen, dass sich in den Gebeinen der Bauwerke verbergen mochte.
Langsamen Schrittes, ging er auf die Kirche zu, deren Tore nur noch halb in den Angeln hingen.
»Bruder Frederick. Seid Ihr hier?«
Der Ruf ließ ihn inne halten.
Er blickte zum Himmel. Es musste bald Mitternacht sein. Entsetzt und gleichzeitig schuldbewusst verzog er das Gesicht.
»Bruder Frederick«, rief der Ankömmling erneut.
»Hier drüben«, antwortete er und ging der Stimme entgegen. Eine Gestalt tauchte zwischen den Mauerresten auf und begann sich mit leichtem Humpeln auf ihn zuzubewegen.
Er erkannte sie jedoch erst, als sie in den Schein seiner Fackel trat. »Barey? Was tut Ihr denn hier?«, fragte er mit aufgerissenen Augen.
Es musste ihn viel Mühe gekostet haben, hier heraufzukommen. Der Priester wusste, dass er ein lahmendes Bein hatte und davon abgesehen, war er nicht mehr der Jüngste.
»Euch suchen, was denn sonst. Bruder Timon ist wieder wach und wünscht Euch zu sprechen. Er schien mir nicht sehr geduldig zu sein und das war bereits vor einigen Stunden.«
»Warum seid Ihr denn selbst hier hoch gekommen? Hättet Ihr nicht jemand anderen schicken können? Ich will Euch nicht zu nahe treten, doch dann wäre ich wahrscheinlich schon wieder in unten im Dorf.« Der alte Arzt verzog sein Gesicht zu einem gekränkten Lächeln und lachte.
» Vielleicht habt Ihr Recht. Meine müden Knochen brauchen von Zeit zu Zeit ein wenig Bewegung. Außerdem hielt ich es für ratsam Eurem Freund noch ein wenig mehr Ruhe zu gönnen. Seine Wunden sind teilweise wieder aufgerissen und das was er jetzt am wenigsten braucht, ist Aufregung.«
Frederick biss sich auf die Lippe. Er war wieder wach. Und er wusste, wo er war. Welche Schlüsse würde er daraus ziehen?
»Dann lasst uns besser schnell zurück gehen. Marduk meinte, es ist nicht gut, nachts draußen unterwegs zu sein.«
»Macht Euch keine Sorgen. Die Wind ist trotz dieses schaurigen Orchesters milde und auch Schnee haben wir nur wenig.«
»Dann bin ich beruhigt. Dürfte ich eine Frage an Euch richten? Warum nennt ihr diesen Ort nur die Ruine? Es scheint mir trotz des Alters nicht sehr verfallen und ich finde es verdient einen deutlich eindrucksvolleren Namen.«
»Wer weiß das schon. Ich habe es mir nicht ausgedacht. Was mich angeht, hat der Ort vor zwei Wochen noch nicht existiert. Er war schon da, nicht dass Ihr mich falsch versteht, sondern ich hatte ihn einfach vergessen und nicht beachtet. Schon merkwürdig, oder?«
»In der Tat.«
Das war allerdings besorgniserregend. Marduk hatte nichts dergleichen erwähnt und es passte auch zu seinem leicht verwirrter Gesichtsausdruck, als er ihm von diesem Ort erzählte.
»Ich verstehe«, sagte Frederick. »Dann könnt ihr mir wahrscheinlich auch nichts von dieser Kuppel erzählen, die vor der Kirche steht?«
»Bedaure. Seid ihr Euch sicher, dass es eine Kirche ist?«, fragte Barey und blickte über die Schulter zurück.
»Es sieht für mich wie eine aus. Ist etwas vor zwei Wochen passiert? Etwas Merkwürdiges?«
Die Miene des Arztes verdüsterte sich und noch bevor er sprach, schämte sich Frederick nicht nachgedacht zu haben. »Es ist zwei Wochen her, dass Maggie verschwand.« Dann schüttelte er den Kopf, wie um den Gedanken wieder zu verjagen und wies zurück auf die Kirche. »Aber wisst ihr, es sieht einfach nicht aus, wie eine Zuflucht der Güldenen. Es fehlt etwas. Die Aura der Geborgenheit, wenn ihr so wollt.«
Verdammt, der alte Mann hatte Recht. Sobald er die Mauern übertrat, hatte er es gespürt, ein Gefühl der Ablehnung, welches die gesamte Zeit auf ihm lastete. Nur seine Neugier war größer, sonst hätte er es nie an diesem Ort ausgehalten.
Jetzt, da er es bemerkt hatte, lastete der Druck nur umso stärker auf ihm und er war froh, als sie die Mauer wieder überschritten.
Es war, als würde ein physischer Druck von ihm abfallen.
Er blickte zu Barey. In seinem Gesicht war ihm nichts anzusehen, doch sein Gang schien unbeschwerter, auch wenn er noch humpelte. Er wirkte jünger, als noch innerhalb der Mauern.
Plötzlich drehte er sich um und blickte mit aufgerissen Augen, an ihm vorbei, in Richtung des Sees.
»Habt Ihr das auch gehört?«, keuchte er.
»Nein, was denn?«, frage Frederick.
Noch einmal wurden seine Augen weiter, dann schloss er sie und schüttelte den Kopf. »Ach nichts. Ich dachte nur für einen Moment, ich hätte etwas gehört. Verzeiht mir bitte. Lasst uns weitergehen.«
Schweigend setzten sie ihren Weg fort und wie schon die gesamte Zeit über, hatte Frederick das Gefühl beobachtet zu werden. Doch wann immer er zu den Seiten spähte, sah er nichts außer dem Spiel ihrer Schatten im Mondlicht und die Schneeflocken, die sich langsam, aber beständig gen Boden senkten.
Ein leises Lachen schwebte an Fredericks Ohr.
Es hörte sich kindlich an.
Irritiert blickte er sich um, konnte aber wieder nichts erkennen.
Bareys Hand krallte sich in Fredericks Mantel. »Sagt mir bitte, dass Ihr es dieses Mal gehört habt.«
Er nickte. »Was war das?«, fragte er, doch Barey schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Doch es ist kein gutes Zeichen.«
»Vielleicht ist es Maggie. Ich dachte sie ist vielleicht in den Ruinen, konnte sie aber nicht finden.
»Wir müssen hier weg. Ich habe Angst«, sagte Barey und seine Hand packte den Mantel. »Schnell.«
»Beruhigt Euch. Wir sind bald da. Ich glaube ich kann schon das Licht der Häuser sehen. Dort vorne. Sehr Ihr?«
»Die Lichter der Häuser bewegen sich aber nicht. Was ist das?«
Frederick kniff die Augen zusammen. Der Arzt hatte Recht. Durch den Schnee war kaum etwas zu erkennen, doch das Licht bewegte sich, ganz sacht nach Links und Rechts.
Und es war auch nicht ganz an der Stelle, wo sich das Dorf befand. Doch es bewegte sich darauf zu.
»Vielleicht haben sie uns am See gesucht und kehren gerade zurück.«
»Es ist nur ein Licht und viel zu groß für eine Laterne. Und Marduk weiß doch, wo wir sind.«
Wieder biss sich Frederick auf die Lippe. Er hasste es, wenn andere Recht hatten, wo er falsch lag.
Irgendetwas bewegte sich auf das Dorf zu und wenn Marduk oder einer der anderen nicht gerade Bruder Timons Karren in Brand gesetzt hatten, dann war es etwas anderes von gleicher Größe und das konnte nichts Gutes bedeuten.
Vergessen war der schmerzende Fuß »Wir müssen uns beeilen. Könnt ihr etwas schneller laufen, Barey?«
»Ich werde es wohl müssen.« Er ließ ihn los und packte stattdessen seinen Stock fester. Zusammen eilten sie den Pfad entlang, wurden jedoch durch das sich bildende Eis immer wieder ausgebremst.
»Es ist am Dorf. Seht doch! Ich kann im Schein das Gasthaus sehen«, sagte Barey und deute mit seiner Hand Links den Hang hinunter, wobei er um ein Haar ausgerutscht wäre.
Es stimmte. Das Gebäude war gut zu erkennen, was Frederick stutzen ließ. Warum konnte er die Häuser sehen, doch nicht die Quelle des Lichts oder wer es bewegte. Er teilte seine Gedanken mit dem Arzt.
»Ist das nicht vollkommen egal? Seht dort vorne ist die Straße.« Kaum hatten sie den Weg erreicht, kamen sie auch schon schneller voran.
Zwar hatte sich auch hier Eis gebildet, doch zumindest war die Strecke jetzt plan und es ging nicht steil bergab. Sie passierten die Ruinen und bald sahen sie das Gasthaus vor sich auftauchen.
Noch immer drang das unheimliche Licht an ihre Augen Es musste auf der Rückseite des Gasthauses sein.
Tausend Ameisen in meinen Adern, dort sind die Gästezimmer, dachte Frederick. Bruder Timon.
»Beeilt Euch.« Seine Krücke fiel zu Boden und er eilte, halb rennend, halb humpelnd auf die Rückseite zu.
»Bei der güldenen Mutter«, entwich es ihm, als er sah, was dort vor sich ging.
Das Licht selbst ging von einer Person aus. Es war ein kleines Mädchen und er musste meine Augen zusammen kneifen, um überhaupt etwas erkennen zu können.
»Was bei allen Heiligen…«. Es war nicht das Mädchen alleine, welches ihm die Luft aus den Lungen blies, es war alles um diese Gestalt herum, was ihn an seinem Verstand zweifeln ließ.
Um sie herum flirrte die Luft und dünne Fäden stiegen aus ihrem Körper empor, führten zusammen und entschwanden in der Dunkelheit.
Frederick wurde das Gefühl nicht los, dass jemand oder etwas bei ihr war. Dieses Flirren um sie herum kam ihm viel zu unförmig und gewaltig vor, als dass es von ihr alleine stammen konnte.
Instinktiv drückte er sich an die Hauswand und machte sich so klein wie möglich. Gleichzeitig schob er sich weiter nach vorne, um einen besseren Blick auf das Mädchen zu erhaschen.
Es musste Maggie sein, doch was tat sie dort?
Scheinbar stand sie stumm vor einem der Zimmer und blickte zum geöffneten Fenster empor. Er kniff die Augen zusammen, um durch den Schnee hindurch mehr sehen zu können.
»Maggie!« Er drehte sich um.
Barey war um die Ecke gekommen und stand nun mit aufgerissenen Augen, wie festgefroren, auf der Stelle.
Das Mädchen bewegte sich nicht, schien ihn gar nicht zu bemerken.
Merkwürdig.
Er versuchte dem Arzt mit Zeichen deutlich zu machen, dass er sich verstecken sollte.
Ob es nun Maggie war oder nicht, etwas stimmte nicht mit ihr.
Der Arzt reagierte nicht auf Fredericks Zeichen. Entweder er sieht mich nicht oder er will mich nicht sehen, dachte Frederick.
Der Arzt blieb stocksteif dort stehen, wo er nun eben stand.
Frederick schob sich näher an die Kreatur heran. In dem gleißenden Licht Maggies Erscheinung konnte er nun kindliche Gesichtszüge erkennen und das Licht schien nicht von ihr auszugehen.
Sie selbst schien das Licht zu sein. Wie war das möglich?
Er war vielleicht noch vier Schritte von ihr entfernt, als ihm etwas auffiel, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Durch den gleißenden Körper schimmerte etwas hindurch. Zuerst hielt er es für eine makabre Täuschung seines Verstandes, doch als er ein zweites Mal hinsah, wusste er, dass es die Wahrheit war.
Es war ein Skelett. Das Skelett eines Kindes.
Frederick stolperte rückwärts. Ein Ast knackte unter seinen Füßen.
Mit einem Mal fuhr das Kind herum, doch mit ihm auch noch etwas anderes.
Er konnte es nicht sehen, doch der Boden begann zu zittern, als würde sich etwas Großes und Schweres bewegen.
»Wie ist das möglich?« Frederick keuchte. Es sah beinahe so aus, als hinge das Mädchen wirklich an den Fäden. Es pendelte von links nach rechts, während es langsam zum Stehen kam.
Dann hörte er es.
Eine Mischung aus dem Quaken eines Frosches und dem Brüllen eines Betrunkenen, nur ungefähr hundert Mal lauter.
Es ließ seine Knochen und die Wände des Gasthauses erzittern.
Was war das?
Er hörte, wie etwas dieses etwas auf ihn zukam und gleichzeitig taumelte auch das Skelett langsam in Fredericks Richtung.
Das Licht pulsierte schneller und schneller.
Zorn, schoss es ihm durch den Kopf. Was auch immer dieses Ding ist, es ist rasend vor Wut.
Er wollte fliehen, doch seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Wie angewurzelt stand er an der Hauswand und konnte sich nicht bewegen.
Das Skelett war nur noch wenige Zentimeter entfernt, als etwas in seiner Nase kitzelte.
Faulige Eier. Verwesung. Das waren die ersten Wörter, die ihm durch den Kopf schossen. Und das war es auch, was seine Stasis beendete.
Er sprang zur Seite.
Gerade rechtzeitig.
Das Skelett stieß genau an dem Ort herab, wo er eben noch gehockt hatte. Der Geruch nach faulenden Eiern wurde noch einmal stärker und erst im letzten Moment bemerkte er das Flimmern neben sich.
Dann öffnete sich in der Luft ein riesiges Maul und entblößte Reihe um Reihe scharfer Zähne, die nach ihm schnappte.
Das Maul klappte zu und Frederick schloss die Augen.
Der Schmerz blieb aus.
Stattdessen wurde er nach hinten gezogen und als er die Augen im Flug öffnete, sah er gerade noch, wie das Maul wieder verschwand.
Frederick vergaß zu atmen. .
»Was ist das für ein Ding?«, sprach eine tiefe Stimme die Frage aus, die er sich selber stellte.
»Ich weiß es nicht. Ins Haus schnell.«
Er kannte die Stimme und wandte sich um.
Bruder Timon stand neben ihm, Blut durchtränkte seine Verbände. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er in die Dunkelheit.
Etwas umklammerte Fredericks Fußgelenk. Trotz der gefütterten Unterkleider wurde ihm eiskalt.
Es war Maggie oder besser gesagt, das Skelett. Wie konnte etwas Totes so fest greifen?
Verzweifelt versuchte er dem Griff zu entkommen, doch selbst durch Tritte, ließ sich diese Kreatur nicht beeindrucken. Immer fester spannten sich die knochigen Finger um sein Bein und drohten es einfach durchzubrechen.
»Hilfe!«
Bruder Timon reagierte im Bruchteil einer Sekunde. Von Fredericks Ruf alarmiert drehte er sich um und sprang noch im selben Augenblick auf ihn zu.
Im Mondlicht sah Frederick eine feine rote Wolke hinter dem Priester herfliegen.
Mit einem kräftigen Schlag seiner bärengleichen Oberarme schlug er auf das Ding ein. Es gab einen nervenzerreißenden, knirschenden Laut, dann ließ der Druck auf sein Bein nach.
»Danke«, sagte er, als Bruder Timon ihn auf die Beine zog.
»Könnt Ihr laufen?«, war seine Antwort.
Er nickte. Erst nach einigen Schritten bemerkte er, dass der Arm des Mädchens noch immer an seinem Bein hing. Er trat mit dem anderen drauf und wollte es wegtreten, doch Bruder Timon bückte sich, schnell doch unter schmerzhaftem Keuchen und hob ihn auf.
»Vielleicht können wir ihn gebrauchen«, sagte er. Seine Gesichtszüge waren kreidebleich und auf der Außenseite seiner blutdurchtränkten Verbände bildeten sich rote Tropfen.
Wie viel konnte ein Mann seiner Statur bluten, bis er umkippte? Frederick wollte es nicht herausfinden. Doch er würde es, wenn sie nicht schleunigst hinein kamen. Hinzu kam, dass Bruder Timon nichts weiter als seine Unterkleider trug und die Luft beinahe beim Atmen gefror.
Er versuchte ihn, die letzten Meter bis zum Eingang, zu stützen, doch er schob ihn davon.
»Helft lieber ihm.« Er wies auf den Arzt, der immer noch starr geradeaus blickte.
Frederick packte ihn am Arm und er ließ sich ohne Widerstand mitschleifen.
Bei der güldenen Mutter, jedenfalls etwas.
Die Tür stand offen und Marduk spähte hinaus, in seiner Hand hielt er eine Mistgabel.
»Was ist dort draußen los?«, fragte er, als Frederick mit Barey an ihm vorbei hinkte.
Bevor Frederick etwas erwidern konnte, unterbrach ihn ein ersticktes Stöhnen, gefolgt von einem Aufprall.
Bruder Timon war auf der Schwelle zusammengebrochen. Marduk blickte zu dem Arzt auf, doch Frederick schüttelte nur den Kopf, ehe er etwas fragen konnte.
Stattdessen bückte er sich über seinen Begleiter und betastete die Verbände.
»Verdammt. Wir müssen ihn auf einen Tisch legen. Helft mir.« Zusammen hievten sie ihn auf einen der freien Tische. Marduk eilte davon, um heißes Wasser und neue Verbände zu holen.
Fredericks Blick irrte zwischen dem Priester und der offenen Tür hinterher.
Draußen schien wieder alles ruhig zu sein. Kein Skelett, kein sich öffnendes Maul und auch kein stapfendes Geräusch.
Und doch wusste er, dass dieses Ding noch dort draußen war.
So schnell er konnte schloss er die Tür und legte den Riegel vor, dann wandte er sich wieder Bruder Timon zu.
Mit zittrigen Händen löste er die Verbände. Sofort stieg ihm Galle in den Mund.
Er hatte die Wundversorgung stets verabscheut. Lieber schlief er zehn Tage in einem frisch ausgehobenem Grab, als auch nur zwei Patienten zu Versorgen. Doch nun kam ihm diese lästige Pflicht zugute. Was hatten die Meister noch gesagt, wie man Wunden wie diese behandelt?
Stück für Stück kroch das Wissen wieder an seine Oberfläche. Vielleicht hatte der Doktor noch antiseptische Salben oder Tinkturen. Doch er bezweifelte, dass der Arzt sie im Gasthaus gelassen hatte, und er würde sich um nichts in der Welt noch einmal nach draußen bewegen.
»Das ist alles, was ich finden konnte.« Marduk legte einen kümmerlichen Rest an Verbänden auf den Tisch und eilte weiter, um einen großen Kessel mit Wasser über den Kamin zu hängen.
»Hast du Alkohol?«
»Reichlich. Gulda, bring den Schnaps.«
Wenige Augenblicke später stand ein Sammelsurium an Flaschen neben dem zitternden Körper Bruder Timons.
Es rann immer noch Blut aus den mittlerweile offen liegenden Wunden, doch lange nicht mehr so viel, wie noch vor einigen Minuten. Hoffentlich liegt das nicht daran, dass kein Blut mehr in ihm ist, dachte Frederick.
Das Wasser kam und während Gulda und Marduk ihn festhielten, begann Frederick damit die Wunden zu Säubern. Was zum Vorschein kam, beunruhigte ihn.
Die Ränder waren schwarz und es roch faulig.
»Wir müssen es abschneiden«, sagte Doktor Barey, der auf einmal neben ihnen stand, die Augen immer noch verschwommen, doch er redete mit fester Stimme.
»Was müssen wir abschneiden?«
“Die Fäulnis. Gulda. Hol bitte den Koffer mit meinen Salben. Es steht noch oben im Zimmer dieses Idioten.«
Also doch, dachte Frederick. Der Güldenen sei Dank.
Gulda zögerte. Erst als er und Marduk ihr zunickten, ging sie.
»Was ist dort draußen passiert?«, fragte der Arzt.
»Ich weiß es nicht”, gestand Frederick. »Ich habe so etwas noch nie erlebt. Aber was es auch war, gehört nicht in den Kreis der Schöpfung.«

Sie hatten die gesamte Nacht damit verbracht Bruder Timon wieder zusammenzuflicken und dennoch konnte Barey nicht sagen, ob er die nächsten Tage überleben würde.
Eines stand fest. Der Priester war hart im Nehmen und dies waren nicht die ersten Wunden, die er sich im Laufe seines Lebens zugezogen hatte, doch jeder Körper hatte Grenzen, was er aushalten konnte.
Und vielleicht waren diese Grenzen nun erreicht.
Was hatte sich dieser Dummkopf von einem Hünen nur dabei Gedacht, bei seinen Verletzungen nach draußen zu gehen, dachte Barey. Ja, er hatte sie gerettet, doch der Mediziner in ihm wollte den Priester einfach nur Ohrfeigen.
Wenn er davon nur nicht sterben würde.
Barey Tripp verließ das Gasthaus und wankte im ersten Sonnenschein des Tages in Richtung seines Hauses. Er war am Ende seiner Kräfte und schaffte es gerade noch zu gehen.
Marduk hatte ihm angeboten, sich in eines seiner Betten zu legen, doch der alte Arzt bevorzugte sein eigenes Bett.
Die Luft half ihm dabei den Kopf wieder frei zu kriegen. Die letzten Wochen hatten viele Erinnerungen an früher wieder hervorgeholt.
Damals waren er und Susanna mit Felix nach Hestar gezogen. Die Stadt hatte ihn krank gemacht. Der Junge war einfach nicht für die Enge gebaut gewesen.
Doch hier in der Natur und weit ab von jedweder Belastung war er aufgeblüht und hatte sein Lächeln wieder gefunden.
Zumindest bis zu jenem schicksalhaftem Tag vierzig Jahren.
Felix war, genau wie Maggie, zum Spielen davongelaufen und weder Susanna noch Barey hatten Zeit, ihm zu folgen.
Geh nicht auf das Eis, hatten sie ihm noch hinterhergerufen, doch er war nur lachend hinausgelaufen. Sein Lachen. Wie sehr er es vermisste. Tränen stiegen ihm in die Augen, als Felix Gesicht vor seinem inneren Auge auftauchte.
Er war so ein schönes Kind gewesen. Tiefe braune Augen, blondes Haar und ein Grinsen, das Berge versetzen konnte.
Lange hatten sie an diesem Abend auf ihren Jungen gewartet. Stunde um Stunde waren Barey und Susanna am Fenster auf und ab gelaufen, hatten draußen nach ihm gesucht. Doch er war nicht aufgetaucht.
Das gesamte Dorf hatte ihnen geholfen, doch schließlich hatten sie einsehen müssen, dass ihr größter Schatz für immer fort war.
Noch lange Zeit hatte Barey jedes Mal, wenn es an sein Tür klopfte, gedacht, Felix stünde auf der Schwelle und jedes Mal war es wie ein Stich ins Herz gewesen, wenn er es doch nicht war.
Barey hielt vor dem schmalen Steinweg zu seiner Hütte inne.
Und dann die Sache mit Maggie. Ob diese Kreatur auch etwas mit dem Verschwinden seines Jungen zu tun hatte?
Gestern Abend hatte er kurz gedacht, er höre sein Lachen und für einen Augenblick hatte sich das Trugbild Maggies in das Antlitz von Felix verwandelt. Seine Hand begann zu zittern, jedes Mal, wenn er daran dachte.
Was war das für ein Ding und warum wollte es sie alle so Leiden sehen? Barey konnte es sich nicht erklären.
Er schlurfte weiter zu seiner Hütte und zog die Tür auf. Es war warm, wie immer.
Susanna hatte den Ofen entzündet und ein gemütliches Feuer begrüßte ihn knisternd. Er widerstand dem Drang, sich einen Moment vor dem Ofen auszuruhen und schlurfte durch die offen stehende Tür in das Schlafzimmer und schlief in dem Augenblick ein, er sich auf die Matratze legte.
Hätte er sich einen Augenblick Zeit genommen, so hätte er bemerkt, dass sich Susanna, seine Frau, nicht mehr im Bett befand und auch nirgends in der Hütte zu sehen war.

Der unberührte Raum

Bruder Timon lebte, doch nach der letzten Nacht schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis er den Rest seines Lebens aushauchte.
Laut Doktor Barey hatte er einen großen Teil seines Blutes verloren und es war fraglich, ob er es wieder regenerieren konnte.
Frederick selbst saß der Schrecken von letzter Nacht noch tief in den Knochen, doch er war noch nie die Art Mensch gewesen, die sich von so etwas aufhalten ließe.
Er band sich früh am Morgen seine Schaufel auf den Rücken, ließ sich von Gulda Verpflegung für den Tag einpacken und nahm sich den alten Gehstock des Arztes. Barey hatte ihn nach den vergangenen Nacht im Gasthaus vergessen und Frederick bezweifelte, dass er etwas dagegen hatte. Es war viel angenehmer damit zu laufen als mit der Krücke.
Bald nachdem Barey aufgebrochen war, machte sich auch Frederick auf den Weg zur Ruine, doch nicht, ohne sich vorher nach allen Seiten umzuschauen.
Die Luft war rein.
Marduk hatte er gesagt, er würde bis zum Sonnenuntergang wieder im Dorf sein. Ihm blieben also etwas mehr als sechs Stunden. Hin würde er eine Stunde brauchen und zurück genauso lange.
Also blieben ihm wahrscheinlich etwas mehr als vier Stunden, um die Kirche zu untersuchen. Wenig Zeit, wenn man bedachte, dass er nicht wusste, worauf er sich dort oben einließ.
Was war, wenn die ursprünglichen Erbauer den Komplex mit Fallen gesichert hatten oder wenn dieses Ungeheuer dort oben hauste.
Frederick schüttelte sich leicht. Es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie alle brauchten Antworten und dort oben würde er sie finden.
Hoffentlich.
Zu seinem Glück hatte der Schneefall gegen Ende der Nacht komplett aufgehört und die Sonne schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln.
Als Frederick endlich vor den eingefallenen Toren stand, war sie schon ein gutes Stück am Himmelszelt empor geklettert und schien von Sekunde zu Sekunde dem Horizont wieder entgegenzustreben, als wolle sie ihn verhöhnen.
Sobald er wieder über die eingefallenen Reste der Mauer trat, fühlte er wieder die Last auf seinen Schultern. Ein Frösteln durchlief ihn.
Was war das nur für ein Ort, fragte er sich und ging vorsichtig weiter. Er ärgerte sich, dass er Marduk nicht doch mitgenommen hatte.
Auf der anderen Seite, falls diese Kreatur hier wirklich leben sollte, dann wäre es egal, ob er sich ihr alleine stellte, oder mit einem Gefährten. Überleben würde er es in jedem Fall nicht.
Bevor er ins Halbdunkel der Eingangshalle trat, überprüfte er noch einmal den Stand der Sonne.
Weniger als fünf Stunden blieben ihm, als er die Kirche betrat.

Schon nach wenigen Sekunden im Inneren biss er sich auf die Unterlippe.
Die Erbauer schienen keine großen Verfechter von Sonnenlicht zu sein. Direkt hinter einem kleinen Eingangsbereich von vielleicht drei Schritt im Durchmesser, lag ein riesiger Raum, durch den in der Mitte ein Gang führte. Links und rechts davon standen vermoderte Bänke.
Im ersten Augenblick dachte er, es gäbe überhaupt keine Fenster, doch er irrte sich.
Als Frederick sich einer Wand näherte, bemerkte er seinen Irrtum und runzelte die Stirn.
»Was für ein Unsinn«, murmelte er, während er die Scheiben betrachtete.
Die Fenster waren verglast, doch mit Scheiben von unterschiedlicher Farbe. Vielleicht Bilder, dachte Frederick, doch es war nicht mehr viel von den Motiven zu erkennen. Er glaubte eine Taube zu erkennen und auf einem anderen ein Bild eines Mannes, wie er einen anderen unter Wasser drückte.
Frederick erschauderte. Es musste sich um einen grausamen Orden gehandelt haben.
Das Bild, was sich mit am Ende des Ganges bot, bestätigte seinen Eindruck. Er mündete vor einem großem Steinblock. Dieser Stand erhöht vor den Bänken und schien eine Art Altar zu sein.
Auf ihm lagen noch die zerfallenen Überreste eines dicken Buches. Alleine der Einband war noch übrig.
Am meisten interessierte ihn jedoch die Szene, die sich ihm hinter dem Altar bot.
An der Wand hinter dem Alter war ein überlebensgroßer Mann aus Holz aufgehängt worden, der an ein Holzkreuz genagelt war. Seine Stirn wurde von Dornen durchbohrt und doch lächelte er.
»Was für kranke Menschen müssen das gewesen sein«, sagte Frederick in die Stille des Raumes hinein.
Sie mussten diesen Mann angebetet haben, anders ließ sich seine Stellung in diesem Raum nicht erklären. Oder vielleicht erinnerte er sie an Dinge, die die Gläubigen nicht tun durften.
Wie man es auch drehte und wandte, es sah grausam aus und Frederick zog es den Magen zusammen, wenn er nur an die Qualen dachte, die der Mann erlitten haben, musste.
Oder war es gar kein Mann, sondern vielleicht ihr Gott oder ein Dämon?
Trotz des makabren Bildes konnte Frederick sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ein Mann als Gott. Das war einfach unmöglich.
Es gab die güldene Mutter und sie war vollkommen. Wenn es noch einen anderen Gott gab, so wäre ihm dieses Wissen sicherlich schon über den Weg gelaufen. Wenn sie diesen Mann anbeteten, so war er entweder ein Dämon oder ein Götze.
Nur mit Mühe konnte er sich von diesem Bild losreißen und sah sich weiter in dem großen Raum um. Der Kult schien großen Wert auf die Darstellung seines Glaubens zu legen. Überall an den Wänden standen Statuen in angelaufenem Gold oder aus Stein.
Andere Götzen, die sie angebetet hatten, doch keine der dargestellten Personen schien solche Schmerzen zu erleiden, wie der Mann an dem Kreuz.
»Was haben wir denn hier?« In einer Ecke war eine unscheinbare Tür aus Holz, noch dazu verdeckt durch eine riesige Statue von einem geflügelten Mann mit einem Speer.
Sie war nicht abgesperrt, klemmte aber, sodass er sie mit seiner Schaufel aufhebeln musste. Frederick fand sich in einem schmalen Gang wieder, der sich nach wenigen Schritten nach links wandte.
Er bog noch einmal nach links ab, dann fand er eine weitere Tür, ungefähr in der Mitte, bevor der Gang noch einmal einen Knick nach links zu machen schien.
Diese Tür sah anders aus.
Frischer. Lebendiger. Neuer.
Vorsichtig legte er seine Hand auf das Holz. Ein Zucken durchfuhr Fredericks Körper und er zog sie blitzartig zurück.
»Was war das denn?«, keuchte er. Die Tür hatte ihm einen Schlag gegeben. Noch immer kribbelte seine Finger, mit denen er das Holz berührt hatte.
Erneut näherte er sich der Tür, doch dieses Mal noch behutsamer, fast schon zärtlich.
Nichts. Alles blieb ruhig. Keine Entladung.
Vorsichtig drehte Frederick an dem Knauf, doch die Tür blieb geschlossen. Auch mit seinem Stock kam er dieses Mal nicht weiter, doch er hatte noch eine Möglichkeit blieb ihm noch.
Frederick nahm seine Schaufel fester und trat vor die Tür.
Die Schaufel war uralt und doch sah sie aus wie neu. In den Büchern stand geschrieben, dass die güldene Mutter selbst uns diese Werkzeuge schenkte, damit wir damit den Geheimnissen auf den Grund gehen können, entsann sich Frederick. In den Stiel waren Schriftzeichen geritzt, deren genaue Bedeutung während den Jahren verloren ging.
Es war Frederick immer ein Rätsel gewesen, wie sie funktionierten und nicht einer der Ältesten hatte ihn seine Frage beantworten können.
Doch nun zählte nur, dass es funktionierte.
Der Priester setzte die Schaufel zwischen Tür und Wand an, an der Stelle, wo sich das Schloss befand, und begann zu drücken.
Ein Zischen erfüllte die Luft und die Runen am Stiel begannen zu glühen. Selbst durch seine dicken Handschuhe konnte Frederick die Hitze des Holzes Spüren. Nach wenigen Sekunden begannen auch die Ränder des Schaufelblattes an, rot zu leuchten.
Es war schwerer als er erwartetet hatte, doch Stück für Stück Glitt die Schaufel durch den Spalt hindurch, dann gab es einen Ruck, als der Riegel durchtrennt war.
Die Tür schwang auf und Frederick stolperte hindurch.

Das Bild was sich ihm bot war ein gänzlich anderes, als Frederick erwartet hatte.
Der Raum war hell erleuchtet. Das Licht strömte durch die verglaste Decke und bot einen Blick auf den wolkenlosen Himmel.
In der Mitte des Raumes stand ein gewaltiger Schreibtisch aus massivem Holz, an der Wand dahinter hing eine kleine Darstellung, des an das Kreuz genagelten Mannes mit der Dornenkrone.
Darunter hing ein Schwert. Ein Zweihänder in tadellosem Zustand, soweit er es beurteilen konnte.
Zweifellos war dies ein kriegerischer Kult gewesen. Doch auch gebildet, denn die übrigen Wände waren mit Regalen voller Bücher und Schriftrollen zugestellt worden.
Sofort war seine Neugier geweckt und er griff nach dem erstbesten Werk und schlug es auf.
Nur um es im nächsten Augenblick wieder enttäuscht sinken zu lassen. Frederick konnte es nicht lesen. Man achtete darauf, dass die Totengräber nicht zu viele Sprachen und Schriften lernten. Nur gerade so viel, um zu erkennen, wenn es sich um eine Sprache handelte.
Wahllos zog er ein paar weitere Bücher aus ihren Plätzen. Einige von ihnen waren in der gleichen Sprache, andere in einer weiteren, ihm unbekannten Schrift verfasst.
Frederick kaute wieder auf seiner Unterlippe. Er schmeckte Blut.
Was diese Schätze wohl für Wissen enthalten mochten? Was würde er dafür geben sie zu durchforsten, diese Sprachen zu lernen und bis auf den letzten Rest, alles zu lernen, was sie ihn lehren mochten.
Doch er konnte. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit und sein Gelübde war eindeutig.
Finde Wissen und bringe es Heim.
Es zu studieren war anderen vorbehalten. Solchen wie Bruder Timon, nur nicht ganz so praktisch veranlagt, wie er es war.
Frederick verstieß schon gegen die Gesetze der Kirche, in dem ich hier nach Wissen suchte, dass er gegen die Kreatur anwenden wollte.
Doch habe ich denn eine Wahl?, dachte er. Nein habe ich nicht. Das Dorf, nein die Menschen brauchten das Wissen. Was, wenn es mehr als eine dieser Kreaturen gibt? Ich tue hier das richtige.
Er konnte nur hoffen, dass Bruder Timon nichts davon erfuhr.
Vielleicht würde er es auch verstehen. Wie es auch war, er würde sich dem später stellen müssen.
Ein Buch auf dem Schreibtisch weckte sein Interesse. Es lag aufgeschlagen dar, als wäre es vor wenigen Minuten noch gelesen worden. Fast wirkte es so, als würde der Leser, jeden Augenblick zurück kommen, um seine Arbeit zu beenden.
Fredericks Finger fuhren geistesabwesend über die Tischplatte. Er rieb sie aneinander und stutzte. Erst dann viel im auf, was ihn an diesem Raum so sonderbar vorkam.
Es lag kein Staub. Nicht ein Körnchen.
Überall im Gebäude säumte er Boden, Bänke und Statuen. Teilweise knöchelhoch, wie man es erwarten würde, doch hier war kein einziges Korn zu entdecken.
Höchst sonderbar, doch er schob es beiseite, wie so vieles in letzter Zeit. Es gab wichtigere Dinge.
Er lehnte die Schaufel gegen den Tisch, ließ sich auf dem Stuhl nieder und begutachtete das vor ihm liegende Werk.
Es war in der gleichen Sprache geschrieben, wie einige der anderen Bücher, doch es war das Bild, welches seine Augen groß werden ließ.
Es zeigte eine Kreatur, die aussah wie ein krötenähnlicher Fisch mit Beinen und einem riesigen Maul.
Ein Maul, welches Frederick letzte Nacht gesehen hatte, als es ihn verschlingen wollte. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
Dies war die Kreatur. Er war sich sicher, auch wegen der knöchernen Angel, die aus dem Kopf der Kreatur zu wachsen schien. Nur das Skelett fehlte.
Frederick schluckte. Es war zwar nur eine Zeichnung. Doch es wirkte so echt, als wäre dieses Monster wirklich in das Papier gebannt worden.
Überall an der Zeichnung waren Notizen gekritzelt worden, in einer anderen Handschrift als der Rest der Seite. Was würde er dafür geben, diese Schrift zu beherrschen. Es könnte die Rettung sein, doch wenn es ihm überhaupt gelänge, würde es Zeit brauchen, Zeit, die sie alle nicht hatte.
Resigniert blätterte der Totengräber weiter und entdeckte andere Zeichnungen von anderen Kreaturen, die er allesamt nicht kannte und von der eine grotesker anmutete als die Nächste.
Von einer Seite starrte ihm ein Wurm entgegen, der überall entlang seines Körpers Mäuler mit rasiermesserscharfen Zähnen hatte.
Er musste den Zeichner bewundern. Alle Bilder waren voller Einzelheiten, als hätten diese Kreaturen dem Künstler selbst Model gestanden.
Doch das konnte nicht sein.
Diese Kreaturen konnten nicht Wirklichkeit sein. Durften es nicht.
Oder doch? Der Krötenfisch zumindest war es. Doch der Rest? Nein, das war nicht möglich, konnte es einfach nicht. Wenn es solche Kreaturen gäbe, dann wüsste die Kirche der güldenen Mutter davon und hätte Jagd auf sie gemacht, um seine Schäfchen zu beschützen.
Es musste eine logische Erklärung für diese Kreatur geben.
Vielleicht eine Tierart, die sich besonders gut zu tarnen vermochte und noch nicht von den Forschern entdeckt worden war. Doch warum stand sie dann in diesem Buch mitsamt dieser anderen fantastischen Kreaturen?
»Tausend Feuerameisen«, fluchte Frederick und klappte das Buch zu. Ein Zettel wurde hinaus geschleudert und segelte zu Boden. Er hob ihn auf.
»Was soll das denn sein?«
Auf dem Papier war hastig eine Kugel gekritzelt worden. Daneben standen wieder Notizen in der gleichen Handschrift.
Etwas regte sich in Fredericks Kopf, er konnte nur noch nicht erkennen, was es war.
Ich übersehe etwas, dachte er. Etwas wichtiges.
Ungeduldig tippelten seine Finger auf das Holz, während er seine Gedanken zu ordnen versuchte. Er hatte solch eine Kugel doch schon irgendwo gesehen.
Noch einmal sah er sich im Raum um, doch konnte nichts weiter entdecken, was ihm hätte Aufschluss geben können.
Kurz überlegte er, das Schwert an sich zu nehmen, doch verwarf den Gedanken gleich wieder. Es würde ihn nur behindern und ihm den Rückweg erschweren. Außerdem schien niemand der Dorfbewohner fähig zu sein, dieses Kriegsgerät zu führen, wie es sich gehörte.
Bruder Timon würde es vielleicht gelingen, doch der lag schwer verletzt im Bett.
Frederick steckte das Buch, samt der Notiz über die Kugel, in seinen Rucksack und machte mich auf den Rückweg.
Die Sonne stand schon bedrohlich nahe über dem Horizont.

»Natürlich.« Jetzt wusste Frederick, wo ich diese Kugel schon einmal gesehen hatte. Sie lag nur direkt vor ihm. Zumindest die eine Hälfte.
Er näherte sich der Kuppel neben der Kirche.
Tatsächlich schien sich das Bauwerk unterhalb der Erde fortzusetzen und allem Anschein nach, war es auch wirklich eine Kugel.
Er umrundete sie.
Merkwürdig. Der Boden auf dieser Seite fühlt sich viel weicher an als auf der anderen Seite, trotz der Kälte
Und noch etwas war anders. Frederick legte sich flach auf den vereisten Boden und blickte nach links und rechts an der Kuppel vorbei.
Tatsächlich, der Boden war hier ein wenig eingesunken.
Ein Blick zurück offenbarte, dass es bis zur Mauer so weiter ging und wahrscheinlich auch bis zum Rand des Plateaus.
Viel Zeit blieb nicht mehr, wie er durch einen weiteren Blick auf die Sonne feststellte.
Trotzdem trieb er die Schaufel in den vereisten Boden. Sie glitt hindurch, wie durch Wasser und die Runen leuchteten nur schwach auf.
Es war ihm gleich merkwürdig vorgekommen, dass er so viel Kraft für das Schloss gebraucht hatte. Vielleicht war es noch anders gesichert gewesen als bloß durch den Riegel. Schließlich gab es auch große Monstrosität, die Skelette vor sich her trugen.
Die Amputationswunde begann zu schmerzen, doch er grub weiter.
Bis der Boden unter mir aufbrach.
Ein Gang wurde sichtbar. Es schien als hätte ein gewaltiges Tier sich einen Weg in Richtung der Klippen gegraben.
Ein Gefängnis. Diese Kugel musste eine Art Käfig für dieses Ding gewesen sein.
Hatte der Kult es gefangen gehalten, um die Menschen zu schützen oder wollten sie es benutzen? Diese Frage beschäftigten Frederick auf dem gesamten Rückweg.
Wenn sie es weggesperrt hatten, um andere zu schützen, stellte sich die Frage, warum sie es nicht getötet hatten? Hatten diese Menschen, die anscheinend den Schmerz selbst verehrten, etwas Mitleid mit diesem Geschöpf oder konnte sie es vielleicht nicht töten?
Das war unmöglich. Das einzige unsterbliche Wesen war die güldene Mutter und dieses Monstrum, was immer es auch war, war kein Gott.

Der Abschied

Frederick erreichte das Dorf gerade, als die Sonne hinter dem Horizont verschwand und nur ein goldener Schimmer ihre Existenz verriet.
»Habt Ihr etwas herausgefunden?«, begrüßte ihn Marduk und reichte dem Totengräber einen Teller mit geräuchertem Fisch.
»Sehr viel und doch bin ich zugleich so schlau, wie zuvor. Wie geht es Bruder Timon?«
»Er lebt noch immer. Sein Herzschlag scheint mir auch ein wenig kräftiger zu sein als noch in der Nacht.«
Das Buch in seinem Rucksack schien mehr zu wiegen als noch vor einer Minute. Er musste es geheim halten, selbst vor den guten Dörflern. Bruder Timon durfte auf keinen Fall davon erfahren.
»Wir sollten alle Leute hier im Gasthaus versammeln. Es ist sicherer, wenn wir alle zusammen bleibe. Und sie sollen Waffen mitbringen, sofern sie so etwas besitzen.«
Der Wirt sah ihn einen Augenblick aus großen Augen an. »Denkt Ihr etwa, dass diese Kreatur zurück kehren wird?«
»Ich bin fest davon überzeugt.«
»Dann läute ich jetzt die Glocke.«
»Welche Glocke?«, fragte Frederick und blickte den Wirt nun seinerseits aus großen Augen an.
»Die Sturmglocke. Ich hatte ganz vergessen, dass es sie gibt. Es ist Euch doch sicherlich schon aufgefallen, dass dieses Gasthaus robuster gebaut ist, als die anderen Häuser und auch ein wenig höher liegt. Im Falle eines Sturmes oder einer Flut oder was der Natur sonst noch einfallen möge, versammelt sich die Gemeinschaft hier. Es hat nur lange keinen Grund mehr gegeben.« Marduk eilte an Frederick vorbei und die Treppe hinauf.
Frederick hatte kaum angefangen zu Essen, als auch schon ein lautes Glockenspiel zu hören war, dass ohne Mühe auch noch über die Seen hinweg gehört werden mochte. Nach wenigen Sekunden klingelte es Frederick in den Ohren.
Doch es zeigte Wirkung. Nach und nach trafen die übrigen Dörfler im Schankraum ein. Ihnen allen Stand die Angst in den Augen und natürlich war es durch die Glocke nicht möglich gewesen, Fredericks genaue Anweisungen durchzugeben.
Einige von ihnen waren jedoch so geistesgegenwärtig gewesen und hatten andere Dinge mitgebracht.
Brot, Bier, Fisch, Fleisch. Frederick lief das Wasser im Mund zusammen. Vielleicht würde er doch noch etwas anderes bekommen als Eintopf.
Während sie auf die letzten Nachzügler warteten, setzte sich Frederick an einen Tisch und kramte das Buch, Pergament und Kohlestift hervor. Er begann damit, die einzelnen Schriftzeichen aus dem Buch abzuschreiben und sie zu zählen.
Es waren insgesamt sechsundzwanzig. Dies allein würde ihm nicht helfen, doch immerhin, es war ein Anfang.
»Entschuldigt bitte.« Der Wirt war an ihn heran getreten und flüsterte ihm mit belegter Stimmte zu. Verwirrt blickte Frederick auf. »Was gibt es?«
»Wir wären dann vollzählig. Nun, bis auf Barey und Susanna.«
»Vielleicht haben sie die Glocke nicht gehört.«
»Sie wohnen keine zwanzig Schritte von hier. Soll ich kurz hinüber laufen?«, fragte der Wirt und sein Blick wanderte schon zu seinem Mantel.
»Nein. Zumindest nicht alleine. Ich komme mit Euch.«, sagte Frederick und verstaute alles wieder schnell in seinem Rucksack.
»Wo wollt ihr hin?«, fragte eine Frau mit ergrauten Haaren und mehr Falten als Zähnen. »Ihr habt uns doch hierher gerufen.«
»Wir sehen nur noch einmal nach, ob draußen alles in Ordnung ist. Bleib du hier, Charlotte. Das gilt für euch alle.«
Die versammelten Dörfler sahen alle zu Marduk auf. Beeindruckt nickte Frederick. Der Wirt schien den Respekt all dieser Leute zu genießen. In ihrer Mitte wirkte er mehr wie ein General als wie ein einfacher Gastwirt.
»Gehen wir, Bruder Frederick.« Ein grimmiger Ausdruck hatte sich auf seine Züge gelegt.
»Geht voran«, sagte der Totengräber »Suchen wir diesen verdammten Arzt.«

Nicht einmal der schmalste Streifen war vom Sonnenlicht geblieben, als Frederick und Marduk das Gasthaus verließen.
Als Lichtquelle diente ihnen die alte Laterne des Wirtes. Es blies kein Wind und eine unheimliche Stille umschlang sie.
»Wo müssen wir lang?«, fragte Frederick und obwohl er nur wenige Schritte entfernt von Marduk stand, hatte er Angst, die Stille würde auch seine Worte verschlingen.
»Dort vorne.« Der Wirt wies auf eine einstöckige Hütte, die nur einen Steinwurf entfernt vom Gasthaus stand.
Fredericks Miene verdüsterte sich. Kein Licht brannte in der Hütte.
Sie gingen langsam, ständig lauschend und in alle Richtungen spähend über den schmalen Steinweg zum Haus des Arztes.
Marduk klopfte. Die Tür war nicht verschlossen und wurde nach Innen aufgestoßen. »Barey. Susanna. Seid ihr da?«, rief der Wirt in das Dunkle des Hauses. Niemand antwortete ihm.
»Sind sie vielleicht spazieren?«, fragte Frederick.
»So dumm sind sie nicht. Die beiden wissen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zu geht. Verdammt noch eins. Barey hat dieses Monster gesehen.« Der Wirt stieg über die Schwelle und betrat die Wohnung.
Der Raum war halb Wohnstätte, halb Behandlungsraum und überall an den Wänden hingen skurrile Gerätschaften. Auf einer Anrichte am Kamin standen einige gerahmte Bilder. Eines dieser kleinen Gemälde zeigte die jüngeren Abbilder des Ehepaares Tripp zusammen mit einem kleinen Jungen.
»Wer ist das?«, fragte Frederick mit leiser Stimme.
»Felix. Ihr Sohn.«
»Ist er fortgegangen?«
»Nein. Er ist gestorben. Sehen wir uns weiter um.«
Der große Raum war beinahe schon penibel sauber und alles schien einen festen Platz zu haben.
Vor dem einigen Fenster war eine kleine Kochstation eingerichtet worden. Auch hier warteten die Messer penibel aneinander gereiht auf ihren Einsatz.
Das Schlafzimmer der Eheleute war einfach, doch gemütlich eingerichtet. Da und dort huschten Insekten in ihre Löcher, als Marduk mit seiner Lampe den Raum ausleuchtete.
Auch hier war keine Spur von den beiden.
»Das Bett ist zerwühlt«, sagte Frederick. Mit einer Hand fuhr er über die Matratze. Sie war kalt.
»Das sieht ihnen gar nicht ähnlich«, sagte Marduk. Frederick blickte zurück ins Wohnzimmer und musste dem Gastwirt zustimmen.
»Wo könnten sie hingegangen sein?«
»Es gibt hier nichts. Der einzige Ort, an dem sich hier alle versammeln, ist mein Heim.«
Frederick grub die Zähne in seine Lippe. Es gefiel ihm ganz und gar nicht. Sein Blick huschte zum Fenster. Es war schon darauf gefasst, dort draußen wieder die leuchtende Gestalt eines Kindes zu sehen, doch alles lag im Dunkeln.
»Wir sollten zu den anderen gehen«, sagte der Totengräber nach einer Weile.
»Ihr habt recht. Ich mache mir Sorgen. Geht Ihr zu den anderen. Ich werde mich noch ein wenig umschauen.«
»Nein. Das ist zu gefährlich. Was, wenn Euch diese Kreatur auflauert?«
»Barey ist mein Freund.«
»Doch tot nützt Ihr ihm genauso wenig, wie mir.«
»Was soll ich denn sonst tun?« Der Wirt blickte trotzig in Fredericks Richtung. Der Priester war froh, dass sein Gesicht im Halbdunkel verborgen lag, denn er wollte nicht, dass der Wirt sein ratloses Gesicht sah.
Land auf, Land ab verließen sich die guten und ehrlichen Leute darauf, dass die Priester der güldenen Mutter ihnen Rat gaben und die Dinge besser verstanden als sie selbst. Doch was sollte man Raten, wenn man selbst nicht wusste, was eigentlich los war.
»Kommt mit mir zurück. Hier könnt Ihr nichts mehr tun«, brachte er schließlich mit belegter Stimme hervor. Der Wirt nickte langsam und ließ den Kopf sinken. »Ihr habt ja recht. Aber es ist nicht einfach.«
»Das ist es nie.«
Gemeinsam verließen sie die Hütte und gingen über den Steinweg in Richtung der Straße.
»Was ist das. Leuchtet mal hierhin Marduk.« Frederick glaubte etwas im Schnee gesehen zu haben.
»Ein Fußabdruck«, sagte Marduk alarmiert. Die Spuren führten parallel zur Straße gen Süden.
»Das könnten Bareys Stiefel gewesen sein. Ist ungefähr seine Größe.«
»Seid Ihr Euch da ganz sicher?«
»Wenn man über Jahr und Tag mit jemandem Tür an Tür beisammen lebt, dann kriegt man so einiges mit.« Witzig, dachte Frederick. Er und Bruder Timon waren nun schon mehrere Jahre Gefährten, doch er konnte nicht sagen, wie seine Spuren aussahen. Er wusste überhaupt nichts über diesen Mann.
»Los. Folgen wir den Spuren«, sagte Marduk. Er antwortete gar nicht erst eine Antwort ab, sondern stapfte drauflos. Frederick blieb nichts anderes übrig, als zu folgen.
Es hätte ohnehin nichts gebracht, es dem Wirt auszureden, dachte er, nachdem sie den Spuren eine Weile gefolgt waren. Die Häuser waren in der Dunkelheit hinter ihnen verschwunden und um sie herum war nur noch Schwärze und Stille.
»Hier ist etwas!«, rief Marduk, der einige Schritte vor Frederick lief.
»Was hast du gefunden?«
»Keine Ahnung. Ich denke, es sind Spuren.« Frederick schob sich an dem Hünen vorbei.
Vor ihm im Boden endeten die Fußabdrücke des Arztes. Dafür begannen andere. Sie waren beinahe kreisrund und größer als sein Kopf. Frederick schluckte. »Das muss die Fährte der Kreatur sein. Aber warum ist er zu ihr gegangen?«
Der Wirt trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Vielleicht hatte die Kreatur ihn unter Kontrolle oder hat ihn ins Freie gelockt.«
»Schon möglich, doch das glaube ich nicht. Warum sollte dieses Monster ihn so weit weg vom Dorf locken. Sie hätte ihn auch in der Nähe töten können und wir hätten nichts bemerkt. Nein. Es muss irgendetwas anderes geschehen sein.«
»Was sollen wir jetzt machen?« Schon wieder so eine Frage, dachte Frederick. Was sollte er jetzt darauf antworten. Er selbst wollte verschiedene Dinge. Er wollte sich verkriechen. Er wollte der Kreatur folgen und mehr herausfinden. Er wollte den Arzt retten. Er wollte am Leben bleiben. Wie, bei der güldenen Mutter, soll ich ihm eine Antwort geben, dachte Frederick.
Der Wirt starrte ihn erwartungsvoll an. »Sollen wir der Spur folgen?« Eine sehr laute Stimme in seinem Kopf schrie ihn an, er solle ja sagen, doch bevor er seinen Mund aufmachen konnte, regte sich sein Gewissen. Dieser Mann hatte Familie und es waren schon genug gestorben.
»Nein. Wir gehen zurück. Die Spuren sehen nicht allzu frisch aus und wir wissen nicht, ob er überhaupt noch lebt. Ich werde morgen früh aufbrechen und ihnen folgen. Wenn ich noch etwas für Barey tun kann, so werde ich es tun.«
»Warum geht Ihr nicht jetzt?«
»Ich bin erschöpft. Die letzten Tage waren anstrengend. Außerdem sollte ich Bruder Timon einen Brief hinterlassen, der ihm alles erklärt.« Der Wirt wirkte nicht überzeugt, doch widersprach auch nicht weiter. Gemeinsam gingen sie zurück zum Gasthaus und wappneten sich, sich den Fragen der übrigen Dorfbewohner zu stellen.

Es war nun nicht mehr hungrig. Über viele Jahre hinweg hatte ein unstillbarer Hunger die Kreatur gequält, doch nun war er gestillt. Für den Moment. Mit langsamen Schritten stampfte es durch die Wildnis. Immer in Richtung Süden, wie die Menschen es nannten.
Was für eine glückliche Fügung war es doch gewesen, dass das letzte Opfer freiwillig zu ihm spaziert war. Ein kehliger Laut entwich der Kreatur. Es war ein verzerrtes, beinahe gequältes Lachen, dass jedes Tier in der Umgebung schaudern ließ. Hätte es noch Tiere gegeben.
Jedes Lebewesen, dass klug genug war, floh, wenn es seine Anwesenheit spürte. Der Rest wurde verschlungen. Und Menschen waren nicht sehr schlaue Kreaturen. Wie leicht es war sie zu jagen. Sie konnten sich nicht einmal verstecken, sondern liefen in ihre großen Behausungen, die weithin sichtbar waren.
Wieder lachte die Kreatur. Das Skelett an seiner Angel wippte hin und her. Doch nur die Kreatur konnte es sehen. Für jeden anderen war sie unsichtbar.
Es hatte sich nach dem Kampf außerhalb des Dorfes auf die Lauer gelegt und gewartet. Die Menschen schienen nicht damit zu rechnen, dass es noch einmal angriff, denn sie unternahmen nichts, um die ihren zu schützen.
Es hatte die Häuser beobachtet und als es sicher war, dass keiner von ihnen suchen würde, hatte es sich herangepirscht. In der Behausung war nur eine Frau gewesen. Die Kreatur hatte sie gelesen und von ihrem Schmerz erfahren. Es war so einfach gewesen, sie ins freie zu locken. Was für ein Zufall war es denn, dass das Skelett, welches es bei seinem Sprung ins Wasser gefunden hatte, ausgerechnet das ihrer Brut war.
Die wulstige Zunge schlängelte sich über die dünnen Lippen des Ungeheuers. Ihre Trauer war so köstlich gewesen und nährte es noch immer, doch was dann geschah, hatte es in eine noch größer Verzückung versetzt.
Wieder hatte es beobachtet und wieder hatte es gewartet, als ein Mann aus der Hütte der Frau gekommen war und sich in seine Richtung aufgemacht hatte. Es hatte gewartet, bis dieser Mann vor ihm stand und sich ihm dann gezeigt.
Dieser winzige Kerl hatte nicht einmal eine Miene verzogen. Doch in seinen Augen sah die Kreatur alles was sie wissen musste. Er war gebrochen hatte alles verloren. Und dann tauchte es in seine Gedanken ein. Er hieß Barey. War ein Medizinmann. Er war der Vater. Er war der Mann. Köstlich.
Dieser Mann flehte es an, ihn zu nehmen. Ihn auch zu verschlingen. Er wollte nur zu Frau und Kind. Köstlich. Speichel tropfte bei diesen Gedanken auf den Boden vor der Kreatur. Sie konnte sich noch ganz genau an den Geschmack der Trauer, der Verzweiflung und der Sehnsucht erinnern.
Doch es war nichts gegen die Euphorie des Wissens, dass dieser Mann niemals zu seiner Familie finden würde. Er war verloren, genau wie sie. Verspeist mit allem was ihn einmal ausgemacht hatte.
Die Kreatur stapfte weiter. Unsichtbar. Doch hinter ihr wurden breite Fußspuren sichtbar. Doch das war egal. Sollten sie ihm ruhig folgen. Es würde sie einem nach dem anderen verschlingen. Die Kreatur hätte sie auch auf der Stelle verschlingen können, doch sie waren noch nicht reif. Viel zu viel Hoffnung steckte noch in den Menschen, die übrig waren. Sie war nährend, doch nicht schmackhaft. Es würde warten, bis es an der Zeit war.
Freudige Erregung schüttelte die Kreatur und für einen kurzen Moment legte sich das Antlitz des alten Arztes über das Skelett des Kindes, bevor es wieder verschwand.

Langsam ging die Sonne über dem See auf. Frederick stand vor seinem Fenster und blickte in die Ferne. Viel Schlaf hatte er nicht gefunden. Es war nun bereits drei Tage her, dass sie die Spuren von Barey im Schnee entdeckt hatten. Sie hatten ihn nicht gefunden, doch die Spuren schienen sich immer weiter vom Dorf zu entfernen. Das Monster war nicht wieder aufgetaucht und für Frederick war klar, dass es weitergezogen war.
Ständig kreisten seine Gedanken über die Vorfälle der letzten zwei Wochen und das, was nur nun zu tun musste.
Sein Blick fiel auf den offenen Brief auf dem Tisch. Die Tinte war noch nicht ganz getrocknet. Ob er es verstehen würde? Wahrscheinlich nicht. Bruder Timon war engstirnig und sehr stark in seinem Glauben verankert. Alles was er tun konnte, war auf seinen Gerechtigkeitssinn zu vertrauen. Vielleicht würde er Gnade walten lassen, wenn er die Gründe erfuhr. Frederick setzte sich und las den Brief noch ein letztes Mal durch.

An Bruder Timon vom heiligen Orden zur Bewahrung des Wissens der güldenen Mutter

Ich hoffe inständig mein Brief erreicht Euch, denn dies bedeutet, dass ihr überlebt habt. Ich bin gegangen, um die Kreatur zu verfolgen, die dieses Dorf heimsuchte. Ich weiß, dass Ihr gezwungen sein werdet, Eure Pflicht zu erfüllen, so wie ich von meinem Gewissen gezwungen bin, diese Kreatur zu jagen.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieses Monstrum Euch die Aufgabe abnehmen wird, denn mir fehlt es an dem Wissen, es niederzustrecken. Ich lege diesen Worten alle Informationen bei, die ich über dieses Ding gesammelt habe. Es sind nicht viele. Doch bitte sendet sie, mit der Bitte um Hilfe, an die Großmeister und die Tochter. Vielleicht wissen sie Rat.
Ich werde versuchen mehr über diese Kreatur herauszufinden, denn ich will nicht, dass noch mehr ihr zum Opfer fallen.
Bitte geleitet Sophia zum nächsten Kloster, auf das ihr dort die Pflege zuteilwerde, die sie so dringend benötigt.
Ich hoffe Ihr überlebt Eure Verletzungen.
Auf das wir uns niemals wiedersehen, denn dies würde meinen Tot bedeuten.

Frederick vom Stein

Er legte einen weitaus längeren Brief mit den besagten Informationen und einer Kopie der Zeichnungen, die er in der Kirche gefunden hatte, zu dem Brief an Bruder Timon und versiegelte beides. Wachs und Siegelstock ließ er auf dem Tisch liegen. Er hatte nun kein Recht mehr, sie zu verwenden. Schaufel und Skapulier behielt er jedoch. Die Schaufel, weil sie ihm noch nützen konnte und den Skapulier, weil er sich nicht von ihm trennen konnte, so sehr er es auch versuchte. Es war, als würde eine unsichtbare Macht ihn davon abhalten wollen.
So leise wie möglich ging er in das Zimmer des verletzten Priesters und betrachtete seinen ehemaligen Gefährten, in dem Wissen, dass er ihn in dem Moment, wo er erwachte, jagen würde.
Hoffentlich habe ich dann schon einige Meilen zwischen uns gebracht, dachte Frederick und legte den Brief auf den Tisch. Zum Abschied machte er den Gruß der Güldenen. Eine Geste, die Bruder Timon nicht erwidern konnte, doch es schien ihm richtig zu sein.
Unten im Schankraum wartete Marduk auf ihn. »Seid Ihr Euch sicher, dass ihr das tun wollt?«
Frederick sah mit trauriger, doch entschlossener Miene zu ihm auf. »Ich bin mir sicher. Einer muss diesem Monster folgen.«
»Es wird Euer Tod sein.«
»Vielleicht. Doch könntet Ihr mit der Gewissheit leben, dass Ihr hättet etwas tun können und es nicht getan habt?«
Der Wirt lächelte ihn an. »Soll ich nicht doch mitkommen? Gulda würde es verstehen.«
»Nein. Ihr müsst Euch um Bruder Timon kümmern. Er ist kein schlechter Mensch und verdient den Tot nicht. Aber gebt ihm nicht zu verstehen, dass Ihr in meine Pläne eingeweiht seid. Er würde Euch als schuldig ansehen.« Marduk nickte, dann reichte er ihm Fredericks Rucksack. »Bis zur nächsten Siedlung sind es drei Tagesmärsche, wenn ihr schnell seid. Fünf, wenn Ihr langsam macht. Der Proviant sollte auf jede Fall reichen.«
»Danke Marduk.« Sie verabschiedeten sich mit dem Gruß und er verließ das Gasthaus >Zu den drei Augen<. Es schneite leicht, doch sein neuer Mantel, ebenfalls ein Geschenk des Wirts, hielt die Kälte ab.
Er hatte die südliche Dorfgrenze schon beinahe erreicht, als er ein Grunzen hörte. Es kam aus einem länglichen Gebäude. Der Totengräber ging hinüber und spähte hinein.
»Hier hat er dich also hingebracht. Ich habe dich ja ganz vergessen.« Er öffnete die Tür und betrachtete das Maultier, das ihn über so viele Meilen begleitet hatte. »Ich kann dich leider nicht mitnehmen. Doch erleichtern will ich dir deine Last ein wenig.«
Frederick ging zu dem Karren, der einsam in einer Ecke stand und brach das Schloss an der schweren Truhe mit einem Hieb seiner Schaufel auf. Im Inneren lag eine einzige Schriftrolle. Er wusste nicht, was es damit auf sich hatte, doch diejenigen die sie versteckten, hatten sich große Mühe gegeben, damit man sie nicht fand. Es war ihre gesamte Ausbeute gewesen. »Vielleicht steht etwas Nützliches in dir geschrieben.« Frederick legte sie vorsichtig in seinen Rucksack.
Draußen schulterte er Schaufel und Rucksack und stützte sich auf Bareys alten Stock. Dann ließ er seinen Blick noch einmal über die drei Seen, das Dorf und die Ruine schweifen, die nur als Schatten auf der Landzunge zu erkennen war.
»Es wird Zeit. Wenn es die Güldene will, werden wir uns eines Tages wieder sehen.«