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Inhaltsverzeichnis

Die Flucht

Er betätigte das angelaufene Feuerzeug und eine kleine Flamme züngelte an dem Tabak seiner Zigarette empor. Kurt saß auf einem Stapel Kisten am Markt von Lokras und beobachtete die vorbeiziehenden Menschen. Manche von ihnen hielten an den Ständen an und betrachteten die Ware, doch er nicht. Er hatte kein Geld, um sich irgendetwas zu essen zu kaufen. Wie jeden Tag würde er warten, bis die Läden dicht machten und sich über die Reste hermachen, wie die anderen Vergessenen auch.
Eine vorbeigehende Frau warf ihm einen abwertenden Blick zu. Er konnte es ihr nicht verübeln. Wenn er sich selbst sehen könnte, würde er genauso gucken. Manchmal fragte er sich selbst, wie es so weit gekommen war. Alles hatte so gut für ihn begonnen. Als Sohn von reichen Einwanderern hatte er die beste Bildung genossen, die man für Geld kaufen konnte und auch danach, war er eine Zeit lang in den höheren Kreisen von Lokras unterwegs gewesen. Er hatte diese Zeit genossen und sich allen Vergnügungen hingegeben, die dieser Sündenpfuhl für einen jungen Mann wie ihn bereit hielt. Es wäre auch alles gut gegangen, doch dann wurde seine Mutter krank und starb. Wenig später folgte sein Vater.
Sein Erbe hatte er schneller verprasst als er Geldsegen sagen konnte und schnell häuften sich die Schuldenberge an. Jede Stellung die er annahm um seine Kosten zu decken, verlor er in kürzester Zeit. Er war es einfach nicht gewohnt zu arbeiten. Zuerst verpfändete er den Schmuck, dann die Kunst und zum Schluss das Haus. Kurt rutschte von einer gesellschaftlichen Schicht in die nächste, bis er unten angekommen war, mit nichts weiter als den Klamotten, die er am Leibe trug und dem alten Obsidianring seines Vaters, das einzige Kleinod, dass er nicht verkauft hatte.

Tag für Tag kam er jetzt zum Mark, bei dem die Handwerker der Stadt und die Bauern der Umgebung ihre Waren anboten, wobei die Bauern das Anrecht auf die größeren und schöneren Stände hatten. Es fiel immer etwas für die ab, die nicht davor zurück schreckten, ein wenig das Recht in die eigenen Hände zu nehmen. Während Markt gehalten wurde ging es nicht, doch wenn am Abend niemand mehr etwas kaufen wollte und alle damit beschäftigt waren ihre Habseligkeiten zusammen zu räumen, dann konnte er sicherlich den ein oder anderen Apfel ergattern.
Er wartete die ganze Zeit auf seinem Kistenstapel. Ab und zu warf ihm einer der Händler einen bösen Blick zu, denn sie wussten genau, warum er hier war, doch konnten sie ihm nichts und das wusste er. Der einzige Vorteil der Vergessenen. Niemand interessierte sich für sie, nicht einmal die Polizei, es sei denn man wurde wirklich mit der Hand im Geldbeutel erwischt. Aus der Tasche seines abgewetzten Mantels fischte er ein Röllchen mit Blättern und zog umständlich eines heraus. Eigentlich hasste er diese Dinger, doch der Tabak hielt ihn von innen warm, wenn die Kälte ihn von außen wieder einmal zu zerschneiden drohte. Dumm nur, dass er ihn auch während anderer Zeiten nehmen musste. Verdammte Sucht. Kurt spuckte auf dem Boden vor ihm und kramte die letzten paar Brösel Tabak aus einer kleinen verbeulten Dose. Er brauchte dringend Nachschub und das war ein Problem, denn Tabak war teuer. Er konnte nicht außerhalb der Stadt angebaut werden, also wurde er importiert. Trotzdem drehte er die mickrige Zigarette zu ende, steckte sie in den Mund und entfachte erneut sein Feuerzeug. Nach ein paar tiefen Zügen ging es ihm besser, es ließ ihn sogar kurz seinen Hunger vergessen. Früher war er einmal gut genährt gewesen, doch die letzten Wochen begannen bereits an ihm zu zehren. Mittlerweile konnte er sogar seine Rippen unter dem letzten Rest Körperfett sehen.

Als die Sonne untergegangen war und die Leute ausblieben, machten sich die Händler daran ihre Stände für die Nacht fertig zu machen. Morgen würden an ihrer Stelle andere stehen und am Tag darauf wieder andere. So unauffällig wie möglich begann Kurt durch die Reihen der Buden zu gehen. Was er zu tun gedachte, würde ihm eine Menge Energie kosten, doch er würde endlich einmal wieder wirklich satt werden. Hier und da sah er, wie noch andere, wie er, über den weitläufigen Marktplatz schlichen. Sie alle waren wegen der gleichen Sache da.
Manche Händler hatten Fässer aufgestellt, in denen sich Reste befanden, die sie nicht verkauft hatten, doch das waren die wenigsten. Kurt griff in eines hinein und befüllte seinen Seesack, den er über dem Rücken trug. Das reich ja nicht mal für den Abend.
Das nächste Fass war leer, genauso wie das übernächste. Die anderen waren schneller gewesen. Aber wegen diesen Resten war er sowieso nicht gekommen. Leise schlich er zu einem der größten Stände des Marktes. Er war auf einer kleinen Empore errichtet worden und gehörte dem Fleischhändler Saul, der als einer der weniger hier jeden Tag von seinen Bediensteten Markt halten ließ. Man nannte ihn nicht umsonst den Viehbaron und er war einer der einflussreichsten Bauern dieser Stadt.
Kurt hatte es auf eines der kleinen Fässchen mit gepökeltem Fleisch abgesehen. Bei dem Anblick war ihm schon am Morgen das Wasser im Mund zusammengelaufen. Die Arbeiter des Viehbarons waren damit beschäftigt die übrige Ware auf den Karren zu laden. Wahrscheinlich würde sie das, was jetzt noch frisch war als Futter an einen der Tiertrainer verkaufen und das Gepökelte würde morgen wieder hier stehen. Nun ja, dachte Kurt mit einem grimmigen Lächeln, bis auf das eine Fässchen. Hinter einem schon verbarrikadierten Stand ging er in Deckung und spähte um die Ecke. Die Luft war rein.
Er fokussierte das Objekt seiner Begierde und suchte in seinem Inneren nach dem Fünkchen an Energie, das er brauchte. Es dauerte lange, doch schließlich fand er es. Kurt spürte, wie sie sich in seinem Ring sammelte und machte sich bereit. Nach einigen tiefen Atemzügen schickte er sie auf die Reise. Im gleichen Moment sah er, wie sich das Fass langsam in Bewegung setzte. Es hob sich einige Millimeter vom Boden hoch und schwebte in seine Richtung. Gierig betrachtete er seine Beute. Es würde nicht mehr lange dauern, da würde er sie in Händen halten.

Ein schrilles Pfeifen blies durch die Nacht und dröhnte in seinen Ohren. Die Kräfte, die das Fass trugen verschwanden augenblicklich und es fiel zu Boden. Hektisch sah Kurt sich um.  Nicht weit von ihm entfernt kamen mehrere Wachen mit Knüppeln und Revolvern durch ein Tür gestürmt und auf ihn zu.
»Verdammt«, murmelte er und sah sich hektisch um. Dann lief er los. Er hatten nicht mehr die Kraft, um sonderlich schnell zu laufen, doch mittlerweile kannte er sich auf dem Markt nur zu gut aus. Er wusste um die Ein- und Ausgänge und kannte auch solche, die die meisten anderen nicht kannten. So wusste er zum Beispiel, dass ein Tuchhändler immer eine Leiter an die Mauer stellte, um sich von den Zinnen in den Ring der Arbeiter zu erleichtern. Kurt lobte den Himmel, als er sie dort immer noch stehen sah. Doch er war noch zu weit entfernt, um offen darauf zugehen zu können. Die Polizisten hätten ihn eingeholt, noch ehe er die ersten Sprossen erklommen hätte. Also schlich er um ein paar Buden herum und versuchte seine umher streifenden Verfolger im Blick zu halten. Keiner von ihnen schien sich für die Leiter zu interessieren. Mit einem schnellen Blick versicherte er sich, dass auch am nächsten Stand niemand mehr arbeitete, dann ging er weiter. Jede Sekunde befürchtete er wieder einen schrillen Pfeifton zu hören, doch er blieb aus. Näher und näher kam er der rettenden Leiter und die Polizisten entfernten sich immer weiter von ihm. Einen von ihnen, ein dicker Typ, mit mehreren Sternen auf der Schulter, sprach mit dem heutigen Händler von Saul.
Kurt wollte eine Reihe weiter gehen, blieb dabei aber an einem der aufgestellten Pfähle hängen und stolperte mitten auf den Weg. Ein gellendes Pfeifen ertönte.
»Da ist er! Mir nach!«, rief einer der Uniformierten und Kurt sah, wie sich mehrere Leuchtpunkte in seine Richtung bewegten. Er hatte keine Wahl mehr. So schnell er konnte lief er auf die Leiter zu. Jeden Moment würden sie nach ihm greifen und zu Boden werfen. Doch er erreichte die Leiter und begann sie emporzuklettern. Da spürte er, wie sie sich bewegte. Er war bereits gut zwei Meter in der Höhe und hatte nochmal gut die gleiche Entfernung vor sich, als die Leiter leicht von der Wand rückte. Sein Blick fiel nach unten. Zwei Polizisten standen am Fuß der Leiter und versuchten sie umzukippen. Zu Kurts Glück hatte sie sich jedoch an einem Vorsprung verkeilt und konnte nicht mehr als nur ein paar Finger breit, bewegt werden. Schnell kletterte er den Rest hoch und lief weiter, ohne sich noch einmal umzublicken. Den Geräuschen nach hatten seine Verfolger begonnen ebenfalls die Leiter zu erklimmen. Die Mauer war wie ein langer Kreis um das Handwerksviertel gezogen und wurde an vier Punkte durch Türme begrenzt, in denen sich die Quartiere der Wachen befanden. Dort konnte er schonmal nicht hin. Doch zu seinem Glück, waren die Häuser des Arbeiterrings so hoch und eng gebaut, dass man fast auf sie übertreten konnte.
Kurt nahm Anlauf.
»Halt Stopp. Im Namen der guten Bürger Lokras, du bist verhaftet!«, rief eine Stimme hinter ihm. Kurt blickte zu ihnen und lächelte die Wachen an.
»Heute nicht.« Er konnte es sich einfach nicht verkneifen. Dann lief er los und sprang. Trotz des geringen Abstands klaffte trotzdem noch ein tiefer Abgrund zwischen ihm und dem rettenden Dach. Und Kurt war nicht gerade in Bestform. Doch er schaffte es  und kam auf dem gegenüberliegenden Dach auf. Die letzten Tage hatte es geregnet und die Ziegel waren wie glatt poliert. Sein Fuß glitt ab und er rutschte das Dach hinunter. Er schrie und versuchte sie irgendwo festzuhalten, doch alles was ihm brachte waren ausgerissene Finger und Hände, als er in den Taubendraht fasste, der an einigen Stellen angebracht war.

Wieder hatte er Glück, dass hier alles so eng bebaut wurde. Er fiel ein Stück, dann blieb er in der Spalte zwischen zwei Häusern hängen, ungefähr einen Meter über dem Boden. Er hörte wie sich die Wachen über ihm unterhielten, doch verstand nicht was. Was er jedoch hörte war, dass sich die Polizisten einen Augenblick später in verschiedene Richtungen davon machten.
Im Kopf ging Kurt seine Möglichkeiten durch. Wenn er hier hängen bliebe, würde er in spätestens fünf Minuten in Gewahrsam sein. Das war etwas, was er nun ganz und gar nicht haben wollte. Wenn ich Vergessener es schaffte, sich verhaften zu lassen, winkte ihm die Verbannung aus der Stadt, was für einen wie ihn den Tot durch Verhungern zur Folge hatte, denn im Land rund um den Stadtstaat Lokras gab es nur die Höfe der Bauern und die waren strengstens Bewacht.
Vorsichtig betastete er seine Umgebung, um herauszufinden, wo er stecken geblieben war. Nach kurzer Zeit kam die Erleichterung. Alleine der kleiner werdende Abstand zwischen den Häusern hatte seinen Fall gestoppt. Mit letzter Kraft stemmte er sich ein wenig in die Höhe und schob sich in Richtung Straße, weg von der Mauer. Fast hätte er es nicht geschafft, doch mit einem Aufschrei schob er sich nach draußen und fiel. Hätte er sich mit den Beinen voran hinab gelassen, es hätte nicht so weg getan. Doch so kam er schmerzhaft mit der Schulter zuerst auf und hätte sich auf dem Pflasterstein auch noch fast den Kopf aufgeschlagen. Ein leises Knacken war aus seiner Schulter zu hören. Es schmerzte, doch er konnte den Arm noch bewegen. Mühsam rappelte er sich auf. Aus Richtung eines der Überwachungstürme, glaubte er schon die Schritte der Polizisten zu hören. Hektisch sah er sich nach einem Versteck um, als irgendwo hinter ihm ein Tor geöffnet wurde.

»He du, komm hier her«, hörte er die Stimme eines Mannes rufen. Kurt überlegte nicht lange, sondern machte auf dem Absatz kehrt und lief genau unter der Enge hindurch, in der er eben noch gesteckt hatte. Sieht fast aus wie eine Sanduhr, dachte Kurt, als er sich durch die Lücke zwischen den Gebäuden quetschte. Er folgte der Stimme, die ihn immer wieder rief, bis er an ein verstecktes Tor in der Ringmauer kam. Komisch, dachte Kurt, hier gibt es doch gar keinen Turm, warum ist denn hier ein  Durchgang?
Ohne den Mann genauer zu betrachten, stolperte er ins Innere. Sofort schloss sein Retter das Tor und Kurt hörte, wie ein schwerer Riegel davor gelegt wurde. Schlagartig wurde es Stockfinster, sodass Kurt an Ort und Stelle verharrte. Er hasste die Finsternis. Seine Hand immer an der kühlen Mauer neben sich, wartete er und lauschte. In seinem Kopf entstanden alle möglichen Horrorvorstellungen, was nun mit ihm passieren würde. Doch dann hörte er, das altbekannte Klicken einer Zündung und das schummrige Licht einer Laterne erhellte den Gang. Erst nur ein wenig, doch sobald der Mann an einem der feinen Rädchen drehte, wurde die Laterne so hell, dass Kurt seinen Retter zum ersten Mal wirklich sehen konnte.
»Nun, das hätten wir erledigt. Wenn ich mich einmal Vorstellen dürfte. Sebastian mein Name. Sebastian der persönliche Diener«, sagte der äußerst gut gekleidete Herr mit der nasalen Stimme. Kurt kannte solche Leute. Sie dienten den Obersten und Reichsten der Stadt und hatten selbst ein so hohes Auskommen, dass man davon als Bauer oder Handwerker nur träumen konnte, egal wie gut man wirtschaftete. »Mit wem habe ich die Ehre?«, fragte Sebastian, als Kurt darauf nichts antwortete. »Tut mir leid, aber das geht dich nichts an«, sagte er dem hochnäsig aussehendem Diener. Es war auf der Straße nicht gut, wenn zu viele Leute seinen Namen kannten. Vorsichtig betastete er seine Schulter, während er seinen Gegenüber nicht aus den Augen ließ. Er spielte mit den Muskeln in seinem Arm. Gebrochen war nichts, doch es würde einige Zeit dauern, bis er die Schulter ohne Probleme benutzen konnte.  »Ihr solltet Euren Arm dringend untersuchen lassen, nichts dass etwas Ernstes passiert ist. Mein Meister könnte Euch da behilflich sein. Er ist stets sehr großzügig, was seine Angestellten betrifft.« »Nur bin ich nicht bei deinem Meister angestellt«, konterte Kurt mit verbissener Miene. Das Gespräch könnte sich als interessant erweisen. Betont gelassen nahm er seinen Seesack vom Rücken, griff hinein und biss dann herzhaft in einen, schon leicht eingedellten, Apfel. Er schmeckte faserig und mehlig, aber es war etwas zu essen. Der Diener, er mochte etwas vierzig Jahre alt sein und damit doppelt so alt wie Kurt, lächelte ihn an. »Das mag einer der Gründe sein, warum es mich an so einen Ort zog.« Bei diesen Worten sah er sich abfällig in dem schmalen Gang um. Kurt tat es ihm gleich und musste zugeben, dass es nicht der Ort war, an dem er einen Diener erwartete hatte. Anhand der ausgespülten Steine vermutete er, dass durch diese Gänge das Wasser in die unteren Ringe geleitet wurde, falls es im Herbst und Winter wieder einmal zu starken Regenfällen kam. »Mein Meister hat mich gesandt, um nach neuem Personal für eine seiner Unternehmungen zu suchen. Sie wird entsprechend dem Aufwand bezahlt zuzüglich einer angemessenen Unterkunft und Nahrung. Ihr könnt wählen, Kurt ehemals Patrizier, jetzt ein Niemand, wollt ihr das Angebot annehmen, oder soll ich die Tür wieder öffnen und euch eurem Schicksal ergeben?«, sagte er und das Grinsen wurde noch ein wenig abwertender. Verdammt, damit hatte Kurt nicht gerechnet. Aber gut, es konnte schon sein, dass dem ein oder anderen sein Fall aufgefallen war. Immerhin waren in den oberen ein Prozent nur ungefähr dreitausend Personen und ihre Dienerschaft. Und für einen guten Tratsch waren die Oberen immer zu begeistern. »Was für eine Arbeit wäre es denn?«, fragte Kurt, nicht nur um ein wenig Zeit zu gewinnen. Sein Magen knurrte und verlangte nach mehr, aber ganz besonders lockte ihn die Aussicht auf ein vernünftiges, warmes Bett. »Das erfahrt Ihr, wenn Ihr annehmt und an eurem Arbeitsplatz erscheint«, antwortete ihm Sebastian knapp. Das konnte nichts Gutes bedeuten, doch anders gesehen, was hatte er schon groß für eine Wahl. Mit zusammen gepressten Lippen nickte er und schlug ein. »Wundervoll. Nun dann. Folgt mir bitte«, sagte er, nun deutlich freundlicher und ging schnellen Schrittes den Gang entlang. Kurt folgte ihm. Der Gang war nicht besonders lang, aber Steil. Als die beiden nach wenigen Metern bereits die nächste Tür erreichten, keuchte Kurt hörbar. Die Tür hatte keinen Riegel und ließ sich mit etwas freundlicher Gewalt einfach öffnen.

Sie befanden sich wieder im Ring der Handwerker, wo auch der Markt abgehalten wurde. Die Tür, durch welche sie kamen, lag verborgen in einer dunklen Ecke und war in der Farbe der Mauer gestrichen, sodass man sie leicht übersehen konnte. Jedoch nur dann, wenn man nicht wusste, wonach man suchte. Sie gingen weiter, doch nicht über die Hauptstraße, sondern folgte den Mauer, bis zur gegenüberliegenden Seite. Sie begegneten niemandem und sprachen auch kein Wort. Auf der anderen Seite angekommen, klopfte der Diener an eine weitere Tür in der Mauer und ihnen wurde geöffnet. Drinnen stand eine Frau mittleren Alters, die fast genau die gleiche Kleidung trug wie Sebastian und ohne Begrüßung machten sie sich auf dem Weg. Bei ihr waren noch andere Menschen, Männer sowie auch Frauen. Manche von ihnen kannte Kurt von der Straße. Sie waren allesamt Vergessene. Langsam machte er sich Gedanken, was für eine Arbeit es wohl sein mochte, dass man dafür in der Nacht die Niedersten der Stadt dafür einsammelte und sogar vor den Wachen rettete.
Zusammen mit seiner Kollegin führte Sebastian den Trott von vielleicht zehn Leuten wieder einen kurzen Steilen Tunnel nach oben und öffnete die nächste Tür. Helles Licht empfing sie, und man konnte meinen, es wäre Tag. Kurt wusste, wo sie waren. Oft genug war er selbst in dem zweiten Ring entlang geschlendert und hatte die prunkvollen Bauten bewundert. Es war bei weitem der größte Ring. Die Bauwerke standen denen im zentralen Kreis um nichts nach, manche waren sogar noch eindrucksvoller, denn sie mussten Versammlungen von bis zu zehntausend Soldaten und Wachen aushalten.

Vor der Tür standen vier Kutschen mit großen Ladeflächen für sie bereit.
»Wenn ich Sie alle bitten dürfte nacheinander einzusteigen. Wir werden Sie dann sogleich zu ihrer neuen Stelle bringen«, rief der Mann namens Sebastian über die tuschelnde Menge hinweg, als noch eine weitere Gruppe von gut Zwanzig hinzukam. Diese bestand hauptsächlich aus Frauen und wenigen Männern. Kurt erkannte einige, die er auf der so genannten Meile der Schande, schon einmal gesehen hatte. Aus der Nähe und ohne Schminke sahen sie traurig aus und gezeichnet vom Gras und Alkohol. Immer wenn er sie bisher gesehen hatte, trugen sie ihr verführerischstes Lächeln und so dick Schminke, dass man die Sorgenfalten in ihrem Gesicht nicht mehr sehen konnte.
»Können wir nicht erst einmal etwas trinken und essen«, begehrte ein kleiner Untersetzter Mann mit fiesen Augen zu wissen und ging auf den Diener zu. In der Menge hob ein zustimmendes Gemurmel an, doch keine wagte es ihn offen zu unterstützen. Sebastian musterte ihn nur einen Augenblick und sprach, diesmal noch lauter und nicht ohne Häme in der Stimme.
»Mein Herr hat euch allen Arbeit, Essen  und einen Platz zum Schlafen versprochen und das wird er auch einhalten. Wenn einer von den werten Damen und Herren damit nicht einverstanden ist, kann er oder sie gerne die Tunnel nutzen und zu seinem angestammten Platz zurück kehren.« Sebastian schien sich nicht darum zu sorgen, dass einer der Soldaten sie fragen konnten, was sie hier machten und nach einem kurzen Blick in alle Richtungen fiel Kurt auf, dass nicht eine Patrouille auf ihrer Ecke unterwegs war. Wer auch immer dieser Kerl ist, er hatte auf jeden Fall Einfluss im Militär, dachte er und zog seinen Seesack näher an sich. Er wollte nicht, dass einer der Umherstehenden bemerkte, dass er etwas zu essen bei sich hatte. Falls sie doch nichts bekommen sollten, würden die paar Äpfel die noch in seiner Tasche waren, sein Überleben sichern. Zu einem ähnlichen Entschluss schien auch der kleine Mann zu kommen, der mittlerweile direkt vor dem Diener stand. Trotzdem versuchte er es noch einmal.
»Ach komm schon. Gib uns doch nur ‘ne Kleinigkeit. Wir kommen ja auch mit«, sagte er. Kurt bemerkte es nur, weil er ganz in seiner Nähe stand. Wahrscheinlich war er sogar der einzige, denn der Rest der Meute, hatte sich aufgemacht in die Wagen zu steigen. Für manche konnte es nicht schnell genug gehen, denn sie drängelten sich an den anderen vorbei und auf den schmalen Stufen, die auf die Ladeflächen führten. Die Kutschen wackelten gefährlich und die Zugpferde scharrten nervös mit den Hufen.
»Wie lange braucht ihr denn noch«, rief eine heisere Stimme von einem der Kutschböcke.
»Wir sind gleich fertig«, rief eine der  Dienerinnen. Auch Kurt machte sich auf dem Weg und hörte im Vorbeigehen noch, wie sich Sebastian noch einmal an den untersetzten Mann wandte.
»Sie können auch hierbleiben, doch wenn man Sie erwischt, wie sie in das Hoheitsgebiet des Militärs eingedrungen sind, dann werden sie noch vor Sonnenaufgang außerhalb der Stadt wieder aufwachen«, sagte er und machte sich daran bei dem ersten Wagen die Holzverschläge zu schließen. Kurt selbst war gerade dabei in den Dritten zu steigen und setzte sich neben einen bärtigen und übel riechenden Mann. Sämtliche Insassen warfen ihm misstrauische Blicke zu, so wie sich auch alle gegenseitig misstrauisch beäugten. Verstohlen zog er die Ärmel seines Mantels über die Hände. Er wollte nicht das jemand seinen Ring sah. Ringe waren teuer. Besonders solche, mit denen man die Magie anrufen konnte. Wenn einer von den Leuten hier in Abstechen und den Ring versetzen würde, konnte er mit dem Geld gut mehrere Monate auskommen, selbst, wenn man das meiste versaufen würde.

Auch ihre Kutsche wurde verschlossen und die Fahrt ging los. Das wenige Licht, dass durch die Spalten im Holz hinein fiel, reichte kaum aus, um die Umrisse seiner Begleiter sehen zu können. Die Fahrt ging über hartes Kopfsteinpflaster und sie wurden alle gut durchgeschüttelt. Ab und an Fluchte einer von ihnen, doch Kurt blieb die gesamte Zeit stumm auf seinem Platz und war damit beschäftigt sich der Hände zu erwehren, die seine Taschen auf Wertgegenstände durchsuchen wollten. Verdammte Tagediebe, dachte er, als er eine weitere unsanft zur Seite schob, was seine Schulter mit einem erneuten Schmerzensstich quittierte. Kurt biss die Zähne zusammen. Bei der ganzen Aufregung hatte er seine Verletzung ganz vergessen. Auch der Hunger trieb wieder böses Spiel in seinen Eingeweiden und es juckte ihn bei der Dunkelheit in den Sack zu greifen und schnell ein paar Bissen zu nehmen, doch er wusste, dass alleine schon der Geruch nach frischem Obst ungewollte Aufmerksamkeit auf ihn ziehen würde.
Wieder ließ eine Bodenwelle die Insassen ein wenig in die Höhe schnellen und Kurt spürte, wie die Körper der anderen Insassen gegen seinen eigenen gepresst wurden. Es geht bergauf.  Die Stadt war auf Stufen gebaut wurden, die man in einen Berg getrieben hatte und einmal um ihn herum führten. Um von einem Ring in den anderen zu gelangen, musste man Rampen hochfahren. Anders als die Tunnel in den Mauern waren diese zwar nicht allzu Steil, dafür aber länger. Und auf einer solchen befanden sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit. Dann verschluckte sie endgültig die Dunkelheit und aus Kurts Vermutung wurde Gewissheit. Sie waren in das Allerheiligste der Stadt vorgedrungen, in den inneren Kreis. Ihre Fahrt in tiefster Finsternis dauerte nicht lange. Keine fünf Minuten, nachdem sie die Rampe wieder verlassen hatten, hielten sie an. Dann öffnete sich die Klappe.

In der Höhle

Da er als letzter in die Kutsche gestiegen war, war er jetzt auch der erste, der wieder hinaus musste. In einem unnatürlichen Zwielicht, stieg Kurt auf eine Art weitläufigen Hinterhof, der auf drei Seiten von einer hohen Mauer umgeben war, in der sich auch das sich nun wieder geschlossene Tor befand. Auf der vierten Seite bildete ein riesiges Anwesen die Begrenzung. Eine weitere Sache, die Kurt auffiel waren die vielen Männer und Frauen in Uniformen der Dienerschaft, die sich hier versammelt hatten. Anders als Sebastian und seine Begleiter, trugen diese die Insignien ihrer Anstellung stolz auf der Brust und er erkannte einige der Familienwappen, denen sie dienten, wieder. Hier ist ja alles versammelt, was Rang und Namen hat. Sein zweiter Blick viel auf die Revolver. Einige trugen sie locker an der Seite, doch einige hielten sie auch verkrampft in den Händen. Das waren vor allem die Jüngeren, die wohl gerade erst ihren Dienst begonnen hatte. In was hab ich mich da jetzt wieder reingeritten, schoss es ihm durch den Kopf und er versuchte sich so unauffällig wie möglich in eine Ecke des Hofes zu drücken, während die Leute hinter ihm  ebenfalls aus den Wagen kletterten.
Kurt hatte die Zahl derjenigen Unterschätzt, die die Diener eingesammelt hatten. Als auch der letzte aus den Kutschen geklettert war, zählte er vielleicht fünfzig Männer und Frauen. Auch einige Kinder waren unter ihnen, die sich meistens an ihre Mütter oder Väter klammerten.

Geduldig warteten die Diener ab, bis Ruhe in die Ansammlung an Vergessenen gekehrt war, dann ergriff der Älteste unter ihnen, der neben Sebastian stand und ihm auffallend ähnlich sah, das Wort. Auch er trug kein Zeichen, das ihm einer Familie zuordnete.
»Willkommen in eurem neuen Zuhause meine Freunde. Mein Name ist Piérre und was euch betrifft, bin ich dafür verantwortlich, dass in diesem hohen Hause alles so verläuft, wie es Anstand und Moral gebietet«, sagte der alte Diener mit Stolz und Erhabenheit in der Stimme. Keiner in der Runde der Vergessenen machte auch nur das geringste Geräusch, alle starrten gebannt auf den Redner und warteten darauf, was er ihnen zu sagen hatte.
»In Kürze, werden wir euch in eure Räumlichkeiten bringen, wo ihr alle Zeit habt euch auszuruhen, zu waschen und natürlich etwas zu euch zu nehmen. Nutzt diese Zeit, die man euch gibt, denn am Morgen beginnt euer Dienst für euren neuen Herren. Habt ihr noch Fragen?«
Eine Hand ganz vorne in der Menge schob sich zögernd nach oben, doch Kurt konnte nicht erkennen, wem sie gehörte. Der Oberdiener nickte der Hand zu.
»Entschuldigung, falls ich es nicht mitbekommen haben sollte, aber was sollen wir eigentlich tun und wem dienen wir eigentlich?«, fragte eine krächzende Stimme, die aber eindeutig zu einer Frau gehörte. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Alten.
»Was die Stellung betrifft, so wird man euch morgen Früh alles wichtige sagen, doch zur zweiten Frage will ich eine Antwort geben. Ihr dient niemandem geringeren als der Familie Brandel.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Nicht nur, dass die Person, die sie in Stellung nahm einen Nachnamen hatte, was selten genug war, nein, es war auch noch einer, den sie alle kannten. Tuck Brandel gehörte zu den angesehensten Geschäftsleuten der Stadt. Geschichten machten die Runde, dass sich sein Vater von einem einfachen Arbeiter bis in die höchsten Kreise hochgekämpft hatte und er selbst stand in dem Ruf ein ebenso tüchtiger Geschäftsmann zu sein, gehörten ihm und seiner Familie doch fast alle Gebäude des zweiten Ringes und wie man hörte auch mehrere im Inneren des Berges. Einer seiner Vordermänner blickte sich zu ihm um und raunzte etwas, dass Kurt nicht verstand, doch Ehrfurcht und Hoffnung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nachvollziehbar, dachte Kurt. Doch irgendetwas stimmte hier nicht. Warum sollte sich Brandel Vergessene holen, wenn er doch einfach auch Arbeiter aus dem vierten Ring hätte anstellen können. Doch jetzt war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Kurt beschloss, dass es am besten sei, alles auf sich zukommen zu lassen und zu sehen was es mit sich brachte, auch, weil er angesichts der Revolver keine andere Wahl hatte. Niemand würde ihn vermissen. Außerdem hatte der Alte etwas von Essen erzählt und er würde sich dreimal verfluchen, wenn er sich das durch die Lappen gehen ließ. »Nun folgt bitte den zwei Gentlemen zu meiner Rechten ins Untergeschoss, wo sich eure Quartiere befinden, und genießt die Gastfreundschaft meines Herren, bis wir morgen dann mit der Arbeit beginnen wollen«, er wies auf Sebastian und einen weiteren Diener, einen dünnen mit langem Hals, der ihm das Aussehen einer Gans verlieh. Diese nickten Knapp, und gingen zu einer Kohlenluke an der Hauswand. Ohne das geringste Quietschen hoben die beiden Männer die schweren Holzbretter an beiden Seiten spielend leicht an.

Nach und nach verschwanden die Vergessenen in der Tür und gingen anscheinend eine Treppe hinab, genau konnte Kurt das nicht erkennen. Auch er reihte sich jetzt in den Trott aus Personen ein, die darauf warteten ins Haus gelassen zu werden. Kurt betrat als letztes die schmale Treppe und hinter ihm wurde die Luke wieder geschlossen. Ein überdeutliches Klicken ertönte, was nur eins bedeuten konnte. Wir sind gefangen. Empfangen wurde er unten von zwei weiteren Dienern, die ihn höflich, aber bestimmt sagten, dass er zu warten habe, bis er an der Reihe sein.
Als sich die Reihen vor ihm lichteten sah er, dass andere Diener damit beschäftigt waren, Dokumente mit Tinte und Feder auszufüllen. Sie stellten den Vergessenen dazu Fragen und auch er musste diese Tortur über sich ergehen lassen.
»Name?«
»Kurt.«
»Gesundheitszustand?«
»Hungrig«, er grinste, als er sah, dass die Frau, die seine Antworten notierte, zuerst mit schrieb und ihm dann einen missbilligenden Blick zuwarf.
»Gesund«, berichtigte sich Kurt immer noch lächelnd.
»Status?«
»Vergessener.«
So ging es eine ganze Zeit lang weiter und Kurt vergaß die Fragen und Antworten, gleich nachdem er sie gehört und gegeben hatte. Zu groß war sein Hunger. Nachdem das Frage-Antwort Spiel zur Zufriedenheit der Diener abgeschlossen war, wurde er in einen Raum geschickt, der vor anderen Menschen nur so überquoll. Es mochten zehn Personen in dem Raum sein, der aber nur für höchstens Fünf ausgelegt war. Hinter ihm wurde die Tür geschlossen und augenblicklich begann es in den Wänden zu Rumpeln und zu Stöhnen. Ihm fielen die blitz blank polierten Duschköpfe aus Messing an der Decke auf, die in Regelmäßigen Abständen dort angebracht waren. Einige wenige andere bemerkten sie auch, doch erst als das Wasser aus ihnen zu sprudeln begann wussten sie alle, worin sie sich befanden,

Das Wasser schoss mit ungeheurer Wucht aus den Rohren und es hätte nicht viel gefehlt um ihnen nicht nur den Dreck, sondern auch gleich die Haut von den Körpern zu waschen. Obwohl nicht viel Platz war, bemühten sich alle so schnell sie konnten, ihre Kleidung auszuziehen und sie an den Rand zu werfen, in der Hoffnung, dass sie nicht all zu nass wurden. Eine Idee, die vielleicht klug gedacht, aber dennoch hoffnungslos war.
Binnen weniger Augenblicke war alles, was sich in diesem Raum befand nass und durchtränkt. Durch eine Öffnung in der Decke wurden Bürsten und Seife nach unten geworfen und sofort stürzten sich die Leute darauf, als wäre es pures Gold. Die meisten von ihnen waren länger auf der Straße gewesen als Kurt und es konnte gut sein, dass es die erste Dusche in einer sehr langen Zeit für sie war, wenn nicht sogar die Erste ihres Lebens, vom Regen einmal abgesehen. Er selbst hielt sich ein wenig zurück und versuchte den harten Wasserstrahl auf seiner Haut zu genießen. Dann, als der erste seine Beute nicht mehr gut genug bewachte, Stahl er sich Bürste und Seife und machte sich sauber.
Nach ein paar Minuten erlosch der Wasserstrom und eine andere Tür ging auf.
»Lasst eure Sachen liegen. Wir haben neue für euch«, sagte ein Junge in einer etwas zu großen Uniform und winkte sie zu sich heran. Der Raum, in den sie kamen war lang, aber niedrig, sodass Kurt selbst nur knapp darin stehen konnte und einige andere den Hals schräg halten mussten, um nicht Gefahr zu laufen, sich eine Glatze zu schrubben. Lange Tische waren an den Wänden aufgestellt, auf denen fein säuberlich Handtücher und Kleidung aufgestapelt lag.
»Bitte, nehmt euch was ihr braucht«, sagte ihnen der Junge und Kurt war nicht der Einzige, der ihm dankend zunickte. Er drängelte sich an einer etwas dicklichen, älteren Frau vorbei und stellte sich in die Reihe der anderen Vergessenen. Auch bei den Duschen musste er einer der letzten gewesen sein, denn der Großteil der Leute war schon wieder angezogen. Alle trugen sie jetzt die gleichen sauberen Leinenhosen und Hemden. Es machte mehr den Anschein einer Gefängniskluft, als einer Arbeitsuniform, aber Kurt verdrängte den Gedanken schnell wieder, als er an der Reihe war, sich seine zu nehmen.
Er fand schnell was er suchte, zog sich an und lief dem allgemeinen Trott hinterher zum hinteren Teil des Raumes. Zuerst wehte ihm der Geruch nach frischem Essen entgegen und ließ ihm das Wasser im Mund zusammen laufen, dann konnte auch sehen, woher der Duft kam.   Vier riesige Töpfe standen nebeneinander aufgereiht auf einem Tisch, der unter seiner Last zusammen  zu brechen drohte, bisher aber tapfer seinen Dient tat. Kurt tat nicht lieber, als ihm ein wenig seiner Last zu nehmen. Er füllte einer der großen Schüsseln, bis zum Rand, sodass etwas überlief und ihm auf die Hand tropfte. Dann nahm er sich drei große Stücken Krustenbrot und setzte sich, wie es die anderen auch taten, auf den Boden.

Keine sagte etwas, alle waren zu beschäftig damit zu essen. Kurt wartete bis ein anderer es ihm vorgemachte, dann nahm auch er sich nach. Das Essen war das Beste was er jemals zu sich genommen hatte. War es natürlich nicht, doch es kam ihm so vor. Er hatte schon wie die alten Könige geschlemmt und sich allem hingegeben, was die Speisekarten der besten Restaurants hergaben, doch diese Gulaschsuppe, mit dem harten Brot, übertraf sie alle.
Nach seiner dritten Portion streckte er sich und ließ sich nach hinten fallen, jedoch erst nachdem er sich einmal umgeschaut hatte, um sicher zu gehen, dass er niemanden störte. Nichts war gefährlicher, als Raubtiere beim Essen zu stören und es gab hier einige mit denen sich Kurt lieber nicht anlegte. Mehr und mehr Männer, Frauen und Kinder waren fertig und einige folgten Kurts Beispiel und streckten sich aus. All das geschah unter den wachsamen Augen der Dienerschaft, die jede ihrer Bewegungen mit Argusaugen verfolgte.
»Wenn ich Sie nun bitten dürfte, mir geordnet zu Folgen. Wir werden Euch nun die Zimmer zuweisen.« Es war wieder der Oberdiener, der sich an die Menge gewendet hatte. Ohne dass es Kurt gemerkt hatte, war er an einer Tür erschienen, die er eigentlich gut im Blick hatte. Einige folgten seine Aufforderung, doch die große Mehrheit blieb sitzen und genoss die Sicherheit und Wärme, vielleicht hatten sie ihn auch einfach nicht gehört. Der alte Diener zog einen Gong hinter seinem Rücken hervor und schlug mit voller Kraft dagegen. Ein ohrenbetäubender Lärm hallte von den nackten Wänden und tat in den Ohren weh, sodass Kurt seine Hände flach gegen den Kopf presste, doch es half nichts.
»Da ich nun die ungeteilte Aufmerksamkeit habe, würde ich Sie alle nachdrücklich bitten, meinen Aufforderungen Folge zu leisten. Als Vertreter unseres Herren sind sie mir dies schuldig«, tadelte der Alte sie im strengen Ton. Diesmal folgten alle seiner Aufforderung und gliederten sich in eine lange Reihe zusammen, die langsam einen Gänsemarsch durch die Tür begann. Diesmal befand sich Kurt etwa in der Mitte, wie er selbst schätzte und wartete gespannt und mit immer noch klingelnden Ohren, was nun auf ihn zukommen würde.

Wer auch immer Luxus erwartete hatte, wird enttäuscht sein, dachte Kurt, als er unsanft in einen Raum mit drei Hochbetten gedrückt wurde. Er war der Erste und noch ehe er sich wirklich umsehen konnte, kamen weitere hinzu. Er zählte drei Männer, eine Frau und ein Kind, doch er versuchte sie erst einmal zu ignorieren, so gut er konnte und sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Bis auf die Betten gab es noch sechs Truhen, in der jeweils ein Schlüssel steckte. Er stopfte seinen Seesack in eine, drehte den Schlüssel um und ließ ihn in die Hosentasche gleiten. Niemand hatte ihm den Seesack abgenommen, als er ihn mit aus der Dusche nahm. Dann warf er sich auf eines der oberen Betten.
»Hey, was glaubst du was du da machst. Wir haben noch nicht entschieden, wer wo schläft«, blaffte ihn einer der anderen Männer an. Jetzt bloß keine Schwäche zeigen, dachte Kurt, biss sich auf die Lippe und drehte sich um. Der Mann, der gesprochen hatte, war groß hatte Muskeln wie Berge und fast noch größere Ohrringe in seinen viel zu kleinen Ohren und hätte er nicht in diesem Moment seine Fingerknochen knacken lassen, es hätte lustig ausgesehen.
»Immer mit der Ruhe mein Freund, ich war schließlich zuerst hier«, meinte Kurt betont gelassen und versuchte sich so groß zu machen, wie er konnte. Im Prinzip sind wir alle wie wilde Tiere, es zählt hier nur, wer dominiert und wer sich dominieren lässt. Und ich hab keine Lust hier eine von der letzteren Sorte zu sein, dachte Kurt und wappnete sich innerlich.
»Ist mir doch egal, wer von uns hier zuerst war. Ich will das Bett und deine Truhe nehme ich auch.«
»Nichts da. Sei doch einfach vernünftig und nimm dir ein anderes Bett, schließlich gibt es doch genug«, erwiderte er, da schaltete sich einer der Freunde des Ohrringträgers ein.
»Ahja und was sollen wir beide dann machen?«, der kleine Mann mit den Tattoos im Gesicht wies auf den dritten im Bunde, der so unglaublich normal wirkte, dass es das auffälligste an ihm war.
»Ihr könnt ja alle drei unten schlafen.« Kurt zuckte mit den Schultern. Eigentlich war es ihm egal gewesen, wo er schlief, und er vermutete, dass es den anderen genau so erging. Sie wollten einfach die starken Kerle markieren und zeigen wer hier der Boss war. Der Große mit den Ohrringen kam ihm jetzt bedrohlich Nahe und funkelte ihn an.
»Bursche. An deiner Stelle würde ich nicht so ein großes Maul riskieren, sonst…«, weiter kam er nicht. Kurt hatte keine Lust mehr auf das Gespräch, dass sich ja sowieso zwangsläufig immer weiter in Richtung einer handfesten Auseinandersetzung manövrierte. Warum also warten, hatte er sich gesagt und seinem Gegenüber einen gut gezielten Kinnhaken verpasst. Er konnte nur hoffen, dass es dem Mann mit dem Ohrringen mehr weh getan hatte, als ihm, denn seine Schulter meldete sich protestierend zurück.
»Verdammt«, fluchte Kurt und schüttelte sich den Arm aus während der Muskelriese mit einem leisen Stöhnen zu Boden ging. Einen Moment lang konnte man fast glauben, dass die Zeit eingefroren war, so starr standen alle im Raum, außer Kurt, der sich die Schulter rieb. Dann begannen die zwei verbliebenen Männern sich langsam in Richtung der Bretterwand zurückzuziehen, die sie von dem Flur trennte.

Der bewusstlose Mann stöhnte leise, als Kurt ihn in die stabile Seitenlage brachte, schließlich wollte er nicht schon am ersten Tag jemanden umbringen.
»Hey, ihr beiden da. Packt mal mit an. Er bekommt das Bett dort.« Kurt wies auf das untere Bett nahe der Tür. Die beiden bewegten sich nicht. Erst als Kurt den beiden noch einmal einen drohenden Blick zu warf huschten sie heran und trugen den Bewusstlosen auf seine Pritsche.
»Ihr beiden nehmt am besten die Betten in der Mitte, wenn ihr nichts dagegen habt«, wandte er sich an die Frau mit dem Kind. Er konnte nicht genau sagen, wie alt sie war, vielleicht irgendetwas zwischen Mitte Zwanzig und Anfang Vierzig. Wenn man auf der Straße zu Hause war alterte man schneller. Ihr Sohn mochte ungefähr fünf Jahre auf dem Buckel haben, doch man sah schon jetzt, wie das Leben als Vergessener ihn zeichnete. Er hatte zahllose Schrammen im Gesicht und ein Auge sah so aus, als sei es blind. Es wäre besser gewesen, wenn sie ihn in ein Heim oder die Armee gegeben hätte, meinte Kurt zu sich selbst.
»Ist wohl das Beste«, sagte die Frau mit einem falschen Lächeln und ließ sich auf das untere Bett sinken, während der Junge die Leite mit einigen Fehltritten empor kletterte.
»Ich bin übrigens Tanja und wer bist du?«
»Kurt«, antwortete er und sah zum oberen Bett empor, »Und wer ist das?«
»Das ist Pick, mein Sohn«, erwiderte sie und diesmal kam ihm ihr Lächeln eine Spur ehrlicher vor.
»Und wer seid ihr?«, fragte er die beiden anderen, die sich über den dritten gebeugt hatten, der allem Anschein nach der Anführer ihrer kleinen Gruppe war. Ängstlich blickten sie zu ihm herüber, doch antworteten ihm nicht. Entnervt stand Kurt auf und bewegte sich zu ihnen rüber. Er fasste den einen unsanft an der Schulter. Eigentlich war das nicht seine Art, doch er wusste, dass es gefährlich war, jetzt Schwäche zu zeigen.
»Ich habe dich was gefragt.«
Der Mann zog eine ängstliche Grimasse. Sein Blick flackerte zwischen Kurt und seinem Boss hin und her, dann dämmerte es anscheinend in seinem Kopf, dass es das klügste wäre, einfach auf die Frage zu antworten und sich nicht auch noch eine Tracht Prügel einzuhandeln.
»P… P… Pat«, brachte er stotternd hervor. Es war der mit dem Gesichts-Tattoo. Kurt verzog sein Gesicht zu einem Grinsen, dass freundlich, aber auch ein wenig bedrohlich sein sollte.
»Geht doch. Und die anderen?«
Der fast schon unheimlich normal aussehende Mann blieb stumm und sah ihn giftig an, sodass sein Kumpel antworten musste. Die beiden hießen Sam und Mr. Bogda, das war der Anführer. Komischer Name. Ob der wohl echt ist?, fragte sich Kurt, doch eigentlich interessierte es ihn nicht wirklich. Wichtig war nur, dass er ihnen klar gemacht hatte, dass mit ihm nicht zu spaßen war.
Mr Bogda grunzte etwas. Anscheinend war er doch nicht so bewusstlos, wie Kurt es sich wünschte, doch noch war er nicht wach. Er wies auf Pat.
»Du kannst das Bett unter mir nehmen. Dein Kumpel da und Mr. Bogda nehmen dieses hier. Ist das klar?«, Pat und Sam nickten, ersterer eifrig, letzterer erst nachdem er ihn noch ein letztes Mal finster angeblickt hatte. Nachdem er überwacht hatte, dass alle in ihre Kojen kletterten schwang auch er sich auf sein Hochbett und machte es sich so gemütlich er konnte. Aus seinem alten Leben war er deutlich besserer Matratzen gewöhnt als dieses Dünne, bei der man das Drahtgestell deutlich spürte, doch es war um Welten besser, als alles in dem er in letzter Zeit geschlafen hatte. Seine Decke war dünn und ein wenig feucht, doch es hielt ihn zumindest warm. Um alles andere würde er sich zu gegebener Zeit Gedanken machen.

Das neue Leben

Ein Diener ging umher, diesmal ein Mann mittleren Alters mit mehr Muskeln als einem gut tun und schloss die Türen, nachdem er einmal in jedem Zimmer mit einem unfreundlichen Ausruf für Ruhe gesorgt hatte. In ihrem Raum war es nicht nötig und der Mann stutzte.
»Ruhe jetzt!«, rief er dann trotzdem und schlug ihre dünne Tür besonders hart zu, sodass Kurt hören konnte, wie der kleine Junge im Bett neben ihm zusammen schrak. Sie hörten, wie ein Riegel vorgeschoben wurde, doch es wunderte ihn nicht. Niemand wollte, dass Vergessene im Haus herum liefen und womöglich etwas mitgehen lassen, bevor sie wieder verschwanden. Mit einem Auge auf das Bett an der Tür kontrollierte er noch einmal, ob sein Ring auch fest saß. Er schloss ein Augen, schlief aber nicht. Nicht heute Nacht. Kurt rechnete fest damit, dass Mr. Bogda ihren Streit nicht auf sich sitzen lassen würde.
Die erste Nacht verlief alles andere als ruhig, denn anscheinend hatten doch so einige ein Problem damit eingesperrt zu sein. Immer wieder hörte Kurt wie es aus anderen Zimmern an die Türen klopfte und Leute schrien.
»Lass mich hier raus.«
»Das könnt ihr doch nicht machen.«
»Lasst mich doch wenigsten zum Abort.«
Jedes Mal verdrehte Kurt die Augen. Es stehen doch Eimer in den Ecken. Was wollten die Leute denn noch für die erste Nacht? Wenn sich die Zustände nicht ändern würden, dann hätten er und sein neuer Arbeitgeber auch bald ein Problem, aber das lag noch in der Zukunft. Mr. Bogda und Sam schienen beide tief und fest zu schlafen, Pat konnte er nicht sehen. Auch Tanja schien eingeschlafen zu sein. Nur von ihrem Sohn Pick drang ab und zu ein leises Schluchzen an sein Ohr. Er wird sich dran gewöhnen müssen und schnell erwachsen werden, wenn er in dieser Welt überleben will. Kurt betrachte die verhüllte Gestalt des Jungen noch eine Weile. Nun vielleicht auch nicht. Vielleicht gibt es hier für ihn die Möglichkeit zumindest noch ein wenig Kind zu sein.

Kurt war dann doch irgendwann eingeschlafen. Die ständige Auszehrung und sein voller Magen hatten irgendwann dann doch ihren Tribut gefordert. Er erwachte, als der Riegel ihrer Tür mit voller Wucht zurück geschoben wurde.
»Frühstück!«, rief der Diener vom gestrigen Abend und stieß die Tür auf. Von der anderen Seite des Raumes hörte er es quietschen. Mit einem raschen Blick sah Kurt, wie Mr. Bogda sich aus dem Bett rollte und wankend aufstand. Sam war gerade dabei die Leiter nach unten zu steigen. Auch Tanja war schon auf den Beinen und unterhielt sich gerade mit Pat, während ihr Sohn noch im Bett lag und sich kaum bewegte.
»Guten Morgen«, sagte sie, als sich Kurt nun ebenfalls aus dem Bett schwang und behände auf dem Boden landete.
»Morgen«, grunzte er und schlurfte an ihr vorbei, wobei er Mr. Bogda und Sam einen finsteren Blick zuwarf. Im Flur empfing ihn schon ein Strom anderer Menschen, die alle in denselben Raum gingen, in dem es auch schon am Abend Essen gegeben hatte. Auf den Tischen standen wieder die gleichen Töpfe nur mit anderem Inhalt. Kurt glaubte, dass es Erbsensuppe war, doch bei dem Schleim konnte er nicht sicher sein. Alles was er schmeckte war das ranzige Fett, was große Augen auf der grün-bräunlichen Flüssigkeit bildete. Tanja und Pick setzten sich zu ihm auf den Boden und nach einigen Augenblicken kam auch Pat dazu. Von Mr. Bogda und Sam fehlte jeder Spur, doch er konnte im Sitzen auch nicht den ganzen Raum absuchen. Sie aßen schweigend und verzogen ab und zu das Gesicht, wenn sie mal wieder ein besonders großes Fettauge hinunterschlangen, doch keiner beschwerte sich.
»Herhören«, bellte eine Stimme von der Tür.
»Nach dem Essen geht es los. Ihr werdet in eure neue Arbeit eingewiesen. Es wird Regeln geben. Wer diese bricht, der wird bestraft. Alles weitere wird euch später erklärt. Verstanden?«, sagte jemand mit einem merkwürdigen Akzent, den Kurt nicht sehen konnte.
Niemand antwortete.
»Wenn man euch fragt, ob ihr etwas verstanden habt, dann antwortet ihr auch. Regel Nummer eins lautet: Wenn euch ein Vorgesetzter etwas fragt, dann antwortet ihr schnell, präzise und höflich. Habt ihr verstanden.?«
Ein allgemeines zustimmendes Gemurmel war zu hören. Der Diener beließ es fürs Erste dabei. Kurt hatte ein ungutes Gefühl bei dem Kerl. Er hörte sich an, wie jemand, mit dem man sich nicht anlegen wollte. Eine Stimme die daran gewohnt ist zu bekommen, was sie will und dies, obwohl sie ein Diener ist. Das kann zum Problem werden, dachte Kurt.  An den Gesichtern seiner Zimmergenossen, konnte er erkennen, dass einige dasselbe dachten.
»Das kann ja heiter werden«, meinte Tanja und versuchte zu lächeln, was ihr aber nicht recht gelingen wollte. Ihr Junge sah sie nur fragend an, sagte aber kein Wort. Sie tätschelte ihm den Rücken, was zumindest ihn wieder beruhigte und er wandte sich wieder seiner Suppe zu.
»Solange sie mir Essen und einen Platz zum Schlafen geben, nenne ich ihn sogar Sir«, scherzte Pat mit einem Grinsen, dass nicht seine Augen erreichte, während er sich weiter einen Löffel nach dem anderen einverleibte. Kurt grunzte nur und dachte sich seinen Teil.

Nach dem Essen wurden sie Tiefer geführt. Es stellte sich heraus, dass sich unter dem Haus von Tuck Brandel ein ganzen Labyrinth an Ebenen und Räumen befand. Gab es auf der ersten Kellerebene noch kleine Fenster, durch die ein wenige Licht hineinströmte, wurden die unteren Ebenen nur noch durch Öllampen erhellt. Kurt sehnte sich nach den weitläufigen Parkanlagen des inneren Kreises. Durch geschickte Ingenieurskunst und Magie waren vieler kleine Oberlichter in den Berg getrieben worden, die Mittels Spiegeln das Sonnenlicht in die riesige, künstliche Höhle trugen, sodass es auch dort taghell erleuchtet war. Doch obwohl er nun so nah daran war, wie schon lange nicht mehr, war er gleichzeitig genau so weit weg, wie am gestrigen Tag. Auch wenn er nun für einen der reichsten Männer Lokras arbeitete, war er doch noch ein Vergessener.
Sie wurden in einen großen, runden Raum geführt, fast schon eine Halle. Überall lagen Matten und Gewichte, an die Wände waren Sprossen angebracht worden. Auf einem Podest in der Mitte wartete Sebastian auf sie. Und erst als alle um ihn herum versammelt waren, begann er zu reden.
»Sicherlich habt ihr euch alle schon gefragt, was für eine Arbeitsstelle euch mein Herr gegeben hat. Ich möchte euch an dieser Stelle einmal darauf hinweisen, dass ihr sie alle angenommen habt und eine Umkehr nicht mehr möglich ist.« Er machte eine dramatische Pause, dann fuhr er mit seiner blasierten Stimme fort. »Es trifft sich, dass sich mein Meister mit einigen seiner Geschäftsfreunde eine neue Unternehmung ausgedacht hat, dessen Sinn und Zweck es ist, einen Zeitvertreib für die Oberen der Stadt zu bieten und ihr dürft alle einen Teil darin haben.«
Na toll, jetzt sollen wir Clowns für die Reichen spielen. Es gab wenig, worauf er weniger Lust hatte als alten Weggefährten zu begegnen, die sich in aller Ruhe über ihn lustig machen sollten. Doch irgendetwas stimmte nicht. Der Raum, in dem sie gerade standen, wollte sich nicht so ganz in das Bild einfügen.
»Was sollen wir denn genau tun?«, fragte dankbarer Weise in genau diesem Moment Mr. Bogda ein paar Reihen links von Kurt. Sebastian blickte ihm lange direkt in die Augen, dann wandte er sich an alle, breitete die Arme aus und sagte nur ein Wort.
»Kämpfen.«

Jedes Gespräch verstummte Augenblicklich und alle fragten sich, ob sie ihn richtig verstanden hatten.
»Entschuldigung.« Die Hand einer zierlichen Frau, fast noch ein Mädchen, reckte sich zaghaft in die Höhe, »Wir sollen was?«
Ein boshaftes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Dieners aus, als er genüsslich die Gesichter der Vergessenen betrachtete.
»Ihr habt mich richtig verstanden. Ihr werdet Kämpfen. Gegeneinander und gegen die Männer und Frauen, die die Geschäftspartner von Mister Brandel  zur Verfügung stellen. Seht euch um. Hier habt ihr alles was ihr braucht und ihr bekommt zu essen und einen Platz zum Schlafen. Und das hier.« Bei seinen letzten Worten hatte er ein paar Dienerinnen heran gewunken, die schwarze Koffer in Händen trugen, die mit feinen Ketten an ihren Handgelenken befestigt waren. Eine nach der anderen, öffneten sie die Klappen und der Inhalt der Koffer funkelte in den unterschiedlichsten Farben. Es waren Ringe, ähnlich wie der, den Kurt selbst trug. Ein einheitliches Pfeifen ging durch den Saal. Die wenigsten von den hier Versammelten hatten schon einmal eine solchen Ring aus der Nähe gesehen, geschweige denn berührt, doch alle wussten sie, wozu sie gut waren.
Mit diesen kleinen Schmuckstücken konnte man die magischen Strömungen bändigen, wozu das Material entscheidend  war, was man mit ihm leisten konnte. Kurt konnte mit seinem Ring aus Obsidian Materie, egal ob tot oder lebendig, telekinetisch zu manipulieren, obwohl es ungleich schwerer bei lebendigen Wesen war. Mit einem Rubin konnte man das Feuer beherrschen und mit einem Bernstein die das Element Erde. Es gab viele solcher Kristalle und alle unterschieden sich in Macht und Wirkung. Von seiner Position aus konnte Kurt es nicht genau erkennen, doch er glaubte nicht, dass in den Ringen dort allzu mächtige Steine verbaut waren.
»Ihr werdet beizeiten lernen, wie man mit ihnen umgeht, doch fürs Erste werden wir die Ringe weiter verwahren. Zur Sicherheit, versteht sich.«

Danach begann er ihnen die Einzelheiten zu erklären. Der Raum in dem sie sich befanden war der Trainingsraum und stehe von jetzt an zu ihrer freien Verfügung und das zu jeder Tageszeit. Daneben gab es noch einen Sparringsring, zwei Gänge weiter und andere Räume, in denen sie unter Aufsicht mit den Ringen trainieren konnten, ohne Aufsicht, falls sie ihre eigenen hatten. Dies sei aber ein Privileg und konnte entzogen werden, wenn die Leistungen nicht stimmten. Alle hingen gebannt an seinen Lippen. Auch Kurt, der sich mittlerweile wünschte, sehr weit weg zu sein.
»Eine Kleinigkeit gibt es noch zu beachten. Sie werden bewertet. Einmal alleine und als Gruppe. Ihre Gruppe ist das Zimmer, in der wir sie einquartiert haben. Alle Gruppen bestehen aus sechs Personen und es ist egal, ob sich ein Kind unter ihnen befindet. Wenn es nicht kämpfen soll, dann müssen die anderen mehr Leistung bringen. Gleiches gilt bei Krankheit oder Tot. Das wäre alles. Danke.« Sebastian nickte knapp, wandte sich um und ging mit den Kofferträgerinnen aus dem Raum. Zurück blieb eine stumme Masse an Menschen, umringt von Männern und Frauen in Fracks. Erst jetzt bemerkte Kurt die verräterischen Ausbeulungen unter ihren weißen Handschuhen und biss sich auf die Lippe. Dass das hier kein Ferienlager wird, war dir ja schon klar, aber so was? Er seufzte und blickte zu Tanja, die wiederum nur Augen für ihren Jungen hatte. Angst und Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Keine Sorge. Das wird schon.« Er wusste selbst nicht, warum er es sagte. Er wusste nicht, ob alles gut würde oder nicht.
Er wusste nur, dass es hier um mehr ging als bloß um einen Job.

Es ging um sein Leben.