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Inhaltsverzeichnis

Das Attentat

»Ist alles zu meiner Zufriedenheit vorbereitet?«, fragte Tuck Brandel, während er aus dem Fenster ins ewige Halbdunkel starrte.
»Ich gehe davon aus, mein Herr«, sagte Piérre und verneigte sich leicht.
»Die Bieter sind informiert?«
»Ich habe es heute morgen veranlasst. Ihre Diener haben die Ware schon beim Eintreffen vor einigen Wochen begutachtet. Mich haben bisher noch keine unzufriedenen Nachrichten ereilt.«
»Ausgezeichnet. Danke Piérre. Das wäre alles.«
»Sehr wohl. Falls ihr meiner noch bedurft, so läutet einfach«, sagte der Diener, verbeugte sich noch einmal tief und verließ den Raum.
Tuck Brandel drehte sich um und blickte seinem Diener nach. Die Tür fiel ohne ein Geräusch ins Schloss und er war wieder alleine. Er kannte Piérre von Kindesbeinen an und niemals hatte er es erlebt, dass er einen Befehl nur halbherzig ausführte und der Tag an dem es so weit war, würde sein letzter in den Diensten von Tuck Brandel sein, dass wussten sie beide. Trotz dieser unumstößlichen Tatsache hegte er Sympathien für diesen Mann. Wie konnte er auch anders? Piérre hatte ihm alles beigebracht, worauf sein Imperium beruhte. Was wäre er gewesen, wenn niemand ihm gelehrt hätte, wie man schreibt, rechnet, oder sogar liest? Für einen Sekundenbruchteil glitt ein Lächeln über seine Lippen, doch es erreichte seine Augen nicht. Nicht einmal jetzt, wo er ganz alleine war.
Er warf noch ein vorbereitetes Scheit in den Kamin, dann setzte er sich an den Schreibtisch, auf dem sich mehrere Haufen mit Schriftstücken befanden. Allesamt säuberlich aufeinandergestapelt und genug Platz lassend, sodass er noch bequem auf der großen Holzplatte seiner Arbeit nachgehen konnte. Zuerst wandte er sich dem linken Stapel zu. Tägliche Korrespondenz und Geschäftszahlen. Auch die ersten Darlegungen seiner neuesten Erwerbung, des Bauernhofes von Bauer Troy waren darunter. Obwohl er nicht auf dem Papier Eigner war, so gehörte es sich zumindest über die aktuellen Zahlen auf dem Laufendem zu bleiben. Zu jedem Dokument verfasste er mit Tinte und Feder auf einem separaten Blatt Notizen, die er versiegelte und in einen kleinen Korb legte. Anweisungen für seine Diener, wie die Unternehmen zu reagieren hatten. Keine davon war für Piérre bestimmt. Sein engster Vertrauter hatte andere Aufgaben, um die er sich kümmern musste.

Es dauerte lange, doch schlussendlich setzte er eine letzte Notiz und besiegelte damit das Schicksal eines kleinen Handwerksbetriebs, der es gewagt hatte, einem anderen, den er unterstützte, Konkurrenz zu machen. Das Feuer knackte und das Licht im Arbeitsraum wurde kurz heller, dann jedoch deutlich dunkler als vorher. Er blickte sich um. Es war ein lächerlich schlichter Raum, wenn man seinen Reichtum bedachte, doch er fand, dass unnötiger Tand nur Ablenkung war und allenfalls in die Empfangshallen seiner Anwesen gehörte. Dieser Raum war zum Arbeiten. Die Wände waren kahl, der Kamin schlicht und die Möbel zweckmäßig, wenngleich von hoher Qualität. Einzig und allein der Aschenbecher neben dem Kamin passte nicht in das Bild. Es war der einzige Luxus, denn er sich hier erlaubte.
Tuck Brandel griff in seine Westentasche und zog eine kleine Pfeife hervor, stopfte sie und entzündete sie mit einer geschickten Bewegung am Kaminfeuer. Einige Minuten stand er reglos da. Nur das Glimmen des Tabaks verriet, dass es sich bei ihm nicht um eine Statue handelte. Dann klopfte er die Pfeife über dem Aschenbecher aus. Asche und nicht verglühter Tabak fielen heraus. Er pustete hinein, begutachtete sie mit einem prüfenden Blick und steckte sie wieder ein. Wieder warf er ein Scheit in den Kamin und setzte sich an den Schreibtisch. Er wartete, bis der Raum ein wenig heller geworden war, dann wandte er sich den beiden Handglocken zu, die auf seinem Schreibtisch standen. Er nahm die linke in die Hand, die ein wenig größer und deutlich schwerer war, als die rechte und ließ ihren Ton einmal erklingen. Sofort öffnete sich neben dem Kamin eine verborgene Tür und eine junge Dienerin kam in den Raum.
»Sie wünschen?«, fragte sie mit einer Verbeugung. Tuck Brandel musterte sie.
»Wie heißt du?«, fragte er.
»Sandra. Es ist mir eine Ehre.«
»Wie lange dienst du mir schon?«
»Zwei Jahre, jedoch meist in einem Eurer Häuser auf dem Land. Ich bin erst vor einer Woche wieder in die Stadt gekommen«, sagte sie. Sie schien nervös zu sein.
»Wer hat dich auf diesen Posten gesetzt?«, fragte er und betrachtete sie noch genauer. Sie war ganz sicher nervös, nur warum, wollte sich ihm nicht erschließen. War es, weil sie zum ersten Mal ihrem Herrn begegnete, oder gab es einen anderen Grund?
»Es war Sebastian. Sandra, hat er gesagt, begebe dich in diesen Raum und tue was Herr Brandel dir sagt, wenn er nach dir läutet«, sagte sie und wich kaum merklich zurück. Ein Schatten legte sich über sein Gesicht. »Bist du dir da sicher?«
»Ja doch, Herr«, sagte sie, doch er spürte jetzt deutlich die Unsicherheit in ihrer Stimme.
»Wieso bin ich mir dann so sicher, dass dem nicht so ist? Sebastian befindet sich seit sechsundzwanzig Tagen nicht mehr in diesem Gebäude«, sagte er mit einem kalten Lächeln im Gesicht. Für einen kurzen Augenblick schien die Zeit still zu stehen und keiner der Beiden rührte sich. Dann sprang sie plötzlich vor.
»Stirb!«, schrie sie und zog unter ihrer Uniform ein Messer hervor. Blitzschnell fuhr seine Hand zur anderen Glocke und ließ sie schellen. Sofort wurde eine weitere versteckte Tür aufgestoßen und mehrere Diener kamen herein. Wie aus dem Nichts schoss ein Stein, ungefähr so groß wie ein Kopf, auf die falsche Dienerin zu und traf sie mitten in den Magen. Besinnungslos brach sie an Ort und Stelle zusammen und blieb liegen. Die hereinstürmenden Diener, allesamt hochgebaute Männer und Frauen mit grimmigen Gesichtern, blickten sich irritiert im Raum um, bis sie die offene Tür und den Mann bemerkten, der dort stand. Dann entspannten sie sich sichtlich.
»Der Tee, mein Herr. Wollen sie ihn hier einnehmen, oder im Salon?«, sagte Piérre, während er sich seinen weißen Handschuh wieder über die Hand mit dem Ring schob, ohne eine sichtbare Erregung zu zeigen.
»Danke Piérre, ich werde ihn im Salon einnehmen«, sagte Tuck Brandel.
»Wie Ihr es wünscht«, sagte Piérre, verbeugte sich und schob den Teewagen wieder von der Tür weg. Die anderen hatten derweil damit begonnen die falsche Dienerin zu fesseln und trugen sie nun ebenfalls aus der Tür nach draußen, dem obersten Diener hinterher.
»Wünscht ihr informiert zu werden, wenn sie wieder wach ist?«, fragte eine blonde Frau mit kurzen Haaren und Augen, die ihr das Aussehen eines Wolfs verliehen.
»Nicht nötig. Lasst Sebastian das Verhör führen, wenn er zurück ist. Er soll entschieden wie mit ihr verfahren wird und wenn nötig, mich informieren.«
»Sehr wohl.« Auch diese Dienerin verbeugte sich und entfernte sich dann raschen Schrittes. Tuck Brandel blieb noch einen Moment in seinem Sessel sitzen.
»Schon der fünfte Anschlag dieses Jahr«, sagte er leise. »Es wird Zeit die Unternehmungen zu beschleunigen und die Kontrolle wieder zu erlangen.« Innerlich mochte er aufgewühlt sein, doch als er auf den Flur trat und von den dortigen Dienern begrüßt wurde, konnte man ihm nichts ansehen. Er ging so kerzengerade und voller Selbstvertrauen wie eh und je die Gänge seines Anwesens entlang, bis zum Salon, wo Piérre schon auf ihn wartete.
»Aufreibende Zeiten«, sagte er zu seinem Diener, der ihn aufmunternd anlächelte.
»Große Taten erzeugen großen Neid, wenn es mir gestattet sei, Euren Vater zu zitieren«, sagte Piérre und goss Tee in einen niedrigen Becher. “Zucker?«
Tuck Brandel nickte und mit einer geschmeidigen Handbewegung verschwanden zwei Würfelzucker in dem Getränk, ohne dass sie auch nur die Spur einer Welle hinterließen.
»Soll ich die weiteren Termine absagen?«
»Das wird nicht nötig sein. Ich habe angeordnet, dass dein Sohn sich um alles Weitere kümmern soll.«
»Ich werde veranlassen, dass er zurückkehrt. Dürfte ich Nora als seine Ablöse vorschlagen?«
Er überlegte einen Augenblick, dann nickte er. »Sie wird den Dienst ebenso verrichten, wie es Sebastian tat«, sagte Piérre und gab einem beistehenden Diener ein Zeichen, der sich sofort verbeugte und ging. Tuck Brandel lehnte sich für einen Augenblick in dem gemütlichen Sessel zurück und genoss die Wärme des Tees in seiner Hand.
»Noch sieben Tage Piérre, dann wird sich zeigen, ob meine Unternehmung vergebens war, oder ob sie die herrlichsten Früchte trägt, die wir je gesehen haben«, sagte er und für einen Moment schien das Leuchten in seinen Augen zu verblassen.
»Das wird es«, versicherte ihm der Diener. »Sie werden nicht scheitern und wir alle stehen Ihnen zu Diensten. Nutzen sie uns, damit es gelingt.« Es war das erste Mal seit einer langen Zeit, dass sich ein ehrliches Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Danke Piérre. Ich würde nun gerne eine Weile allein sein. Wenn mein nächster Termin eintrifft, so führt ihn hierher. Ich verspüre heute keine Lust mehr in mein Arbeitszimmer zu gehen.«
»Sehr wohl«, sagte Piérre und nach einer Verbeugung war auch er verschwunden. Nun war Tuck Brandel ganz allein im Salon, umgeben von den teuersten Kostbarkeiten, die man in ganz Lokras und Umgebung erhalten konnte. Selbst das Mobiliar hatte er extra anfertigen und aufwendig verzieren lassen. Nicht weil es seinem Geschmack schmeichelte, sondern weil es dazu gehörte. Man wurde nur dann ernst genommen, wenn man das Geld mit vollen Händen wieder zu den Fenstern hinaus warf in dieser Gesellschaft, die sich selbst die Oberen nannte. Wären nicht Frauen und Männer wie er, die die Geschicke der Stadt aus dem Hintergrund lenkten, Lokras wäre schon vor Jahrzehnten an seiner eigenen Dekadenz zu Grunde gegangen, wie andere Städte und sogar Staaten vor ihr. Wenn das einfache Volk sich erhebt und zu den Waffen greift, um die Herrscher zu stürzen, bleibt nichts als Bedeutungslosigkeit und Armut für die, die übrig bleiben, egal woher sie stammen. Doch das würde er verhindern. Selbst wenn er sich dazu seiner Konkurrenz entledigen musste.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es schon beinahe an der Zeit war. Er stellte den Becher zurück auf den Wagen, erhob sich, richtete seine Weste und setzte sich auf einen schlichten Stuhl hinter einem kleinen Schreibtisch. Es klopfte an die Tür.
Die Tür schloss sich und Tuck Brandel und Piérre waren wieder alleine.
»Soll ich das Essen auftragen lassen?«, fragte der Diener.
»Noch nicht. Ist Sebastian eingetroffen?«, fragte er.
»Vor vierzig Minuten. Er hat sich unverzüglich an die Befragung gemacht. Nach meinem Kenntnisstand erwartet er jedoch vor Mitternacht keine Ergebnisse. Das Objekt scheint ausgesprochenen Widerstand an den Tag zu legen, doch er ist zuversichtlich Euch nützliche Informationen liefern zu können«, sagte Piérre mit nicht geringem Stolz in der Stimme. Tuck Brandel erinnerte sich noch an den Tag, als Piérre ihn gebeten hatte, auch seinen Sohn in Dienst zu stellen, obwohl es eigentlich nicht üblich war, dass mehrere Generationen der gleichen Familie einem Herrn diente, um emotionale Verbindungen zu verhindern. Meistens wurden sie an andere Familien verkauft, oder man tauschte vielversprechende Kandidaten aus. Zuerst hatte man seine Zustimmung als Schwäche interpretiert, was ihn einiges an Ansehen gekostet hatte. Eine Ansicht, die sich als falsch herausgestellt hatte. Mit Sebastian hatte er einen ebenso pflichtbewussten und ergebenen Diener gefunden, der seinem Vater in Hingabe und Fähigkeiten glich, wie kein anderer. Mehr noch als das. Bei einigen Gelegenheiten hatte er bemerkt, dass er ihren Rat sogar mehr schätzte als seine eigene Einschätzung der Lage. Gefährlich, doch bisher hatten sie ihn nie enttäuscht.
»Was denkst du, sollte ich mit ihr tun?«, fragte er und beobachtete Piérre aus den Augenwinkeln. Er antwortete nicht sofort, sondern ließ sich Zeit, um die Folgen jeder einzelnen möglichen Antwort abzuwägen.
»Wenn Ihr meinen bescheidenen Rat hören wollt, dann gibt es mehrere Möglichkeiten. Ihr könntet sie freilassen oder töten, wenn ihr bekommen habt, was ihr wollt. Doch das würde mehr schaden, als das es nützt. Zumindest, wenn es ohne Kontext geschieht. Ihr könntet auch versuchen sie Euch zu nutze zu machen. Mein Sohn konnte versuchen, sie für Eure Sache zu gewinnen, doch es würde mir im Herzen wehtun, wenn ich eine solche Person hier weiter herumlaufen sähe.« Er hielt kurz Inne und blickte seinen Herrn an, doch dieser verriet mit keiner Zuckung, ob ihm die Gefühlsäußerung Piérres zuwider war. »Am besten wäre es, sie bliebe unser Gast. Wir könnten sie benutzen, um ein Signal an die Bieter zu senden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Drahtzieher unter ihnen zu finden ist.«
»Danke Piérre. Ich werde über deine Vorschläge nachdenken. Du kannst das Essen auftragen lassen«, sagte er und faltete die Hände vor der Brust. Es war ein guter Vorschlag. Natürlich konnte er sich ohne großen Aufwand für immer verschwinden lassen, doch auch ein Verschwinden über längere Dauer würde bemerkt werden. Es mochte Sinn ergeben, sie als Attraktion in der Hinterhand zu behalten. Wäre der Anschlag zu einer anderen Zeit geschehen, so hätte er sich nicht lange damit befasst. Doch jetzt, so kurz vor dem ersten Kampf, konnte es auch sein, dass jemand seinen Sturz vorbereitete, obwohl dem Auftraggeber klar sein musste, dass die Attentäterin scheitern musste.
Es klopfte und Piérre trat hinein. »Es ist angerichtet.«
»Danke«, sagte Tuck Brandel, und ging ins Esszimmer, gefolgt von seinem Diener. Es war ein großer Raum mit schlichtem Mobiliar und kahlen Wänden. Lachen schlug ihm entgegen, das sofort verstummte, als er das Zimmer betrat. Jeder seiner Diener, der nicht unbedingt im oder ums Haus herum gebraucht wurde, saß hier und wartete darauf, dass er sich ans Tischende setzte.
»Bitte. Esst«, sagte Tuck Brandel. »Wir haben viel zu tun.« Eine alte Dienerin, neben die Piérre sich setzte prostete ihm zu. Der Platz zu ihrer Linken blieb leer. Sebastian war im Kellergewölbe geblieben, um seinen Auftrag zu Ende zu führen. Er erwiderte den Gruß mit einem knappen Nicken. Was auch immer die Regeln geboten, in seinem Haus gab es eine, die über allem anderen stand. Zu Tisch waren alle gleich. Wenn sie diesen Raum wieder verließen, war das Gleichgewicht wiederhergestellt, doch hier und jetzt reichten sie sich die Schüsseln und Getränke. Aßen, tranken und für einen kurzen Moment, vergaß selbst Tuck Brandel, wohin er eigentlich gehörte. Das Essen dauerte eine Stunde und trotz des vielen Lachens, aßen sie, ohne ein Wort zu verlieren. Das war die zweite Regel am Tisch, denn nur wenn sie nicht sprachen, konnten sie alle glauben gleich zu sein. Sie verließen den Raum alle durch die gleiche Tür und sobald sie die Schwelle übertreten hatten, änderte sich ihr Verhalten wieder und sie verbeugten sich tief vor ihrem Herrn.
Tuck Brandel zog es vor sich in seine Bibliothek zurückzuziehen. Dort angekommen ließ er sich von einem Diener die Pläne des Untergrunds bringen. Es war an der Zeit die Wege wieder nutzbar zu machen, um seine Unternehmung auch durch die problemlose Beschaffung von Nutz- und Nahrungsmitteln zu helfen. Doch wie sollte er es anstellen? Er konnte wohl kaum offizielle Arbeiten dort in Auftrag geben. Das würde man selbst ihm nicht durchgehen lassen. Aber vielleicht, wenn er es schaffte einen Arbeitstrupp zusammenzustellen und ihn von außerhalb der Stadt an den Tunneln arbeiten zu lassen. Er machte sich ein paar Notizen und ließ dann wieder nach Piérre schicken.
»Sie haben noch einen Wunsch?«, fragte der Diener und las sich den Zettel aufmerksam durch, den Tuck Brandel ihm reichte. »Wie ihr wünscht.« Er zerriss das Papier und warf es in den kleinen Ofen, der die Bibliothek beheizte.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Das wäre alles. Danke. Ach, eine Sache wäre da noch. Gibt es Neuigkeiten von Sebastian? Ich wünsche ihn noch heute in der Angelegenheit zu sprechen.«
»Ich werde nach ihm schicken lassen«, sagte Piérre, dann wandte er sich um und ging. Auch das wäre erledigt, dachte er und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er griff neben sich und zog einen dicken Wälzer heraus. Es handelte sich um die Geschichte der Stadt. Im Allgemeinen las er solche Werke zur Entspannung, doch ab und zu konnte man in kleinen Nebensätzen noch das ein oder andere nützliche Wissen entdecken. Zum Beispiel, dass es unter den erst recht spät angelegten Gängen der Katakomben noch tiefer liegende gab, die einst zum Schürfen genutzt wurden. Er wusste noch nicht, was er mit diesem Wissen tun sollte, doch er hatte das Gefühl, dass ihm bald etwas einfallen würde.
Das aufgeschlagene Kapitel handelte von Predigern des einen, die einst auf diesem Berg ein Kloster errichteten. Er las es zwar durch, doch seine Aufmerksamkeit schwenkte immer wieder herüber zu den heutigen Geschehnissen. Wie die meisten Bewohner Lokras, hatte auch er nichts für Religion, gleich in welcher Gestalt, übrig. Er glaubte an seine eigene Kraft und an die der anderen, doch nicht an eine übernatürliche Wesenheit, die am Ende über alle Menschen richten würde. Es musste nun beinahe Zweihundert Jahre her sein, dass die Bürger von Lokras die Kirchen aus ihrer Mitte verbannt hatten, überlegte er und blätterte schnell in einem anderen Buch herum, bis er den Eintrag fand. Dreihundert Jahre, las er.

Die Mission

Gegen Mitternacht klopfte es an der Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde sie geöffnet und die hochgewachsene Gestalt Sebastians trat ins Zimmer. Der Schein der Öllampen spiegelte sich auf seinem Gesicht.
»Sie haben nach mir rufen lassen«, sagte er. Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Wie geht es unserem Gast? Hat sie schon etwas preisgegeben?«
»Nicht viel. Nicht einmal ihren Auftraggeber habe ich erfahren können. Doch zumindest einen Namen habe ich, von dem ich glaube, dass es ihr richtiger ist. Chima.«
»Ein interessanter Name. Doch ich brauche mehr, ehe ich Schritte ergreifen kann.«
»Sehr wohl. Ich habe bereits Personal ausgeschickt, sich bei ihren Kontakten in den anderen Häusern umzuhören. Ich versichere Euch, bis zum ersten Kampf habt Ihr die Informationen.«
»Ich nehme dich beim Wort.«
»Nichts anderes will ich«, sagte Sebastian und verbeugte sich. »Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?«
»Wie lief dein Auftrag, bis Nora dich abgelöst hat?«
»Ausgezeichnet. Niemand beansprucht die Tunnel von dieser Seite zurzeit für sich.«
»Sehr gut. Ich habe deinem Vater bereits weitere Instruktionen gegeben. Wenn du mit unserem Gast fertig bist, dann quartiere sie bitte in eine Zelle ein und sorge dafür, dass es ihr an nichts mangelt. Sie sollte in bester Verfassung sein, unabhängig davon, was ich schlussendlich mit ihr machen werde«, sagte Tuck Brandel und machte eine Pause. »Wenn das erledigt ist, meldest du dich wieder bei mir. Ich habe eine Aufgabe für dich. Im Andersland.«
»Im Andersland?«, fragte Sebastian und eine seiner Augenbrauen zuckte kurz nach oben.
»Alles Weitere klären wir, wenn es so weit ist. Du bist entlassen.« Sebastian verbeugte sich und schloss die Tür.
Er konnte die Verwunderung seines Dieners verstehen. Das Andersland war kein Land an sich, eher eine Verwendung der Bürger Lokras für alles, was außerhalb ihres Einflussbereiches lag. Lange hatte er darüber nachgedacht, ob er wirklich Sebastian schicken sollte, doch obwohl er ihn gerade jetzt nicht missen wollte, konnte er auch niemand anderem diese wichtige Aufgabe anvertrauen. Wenn es ihm gelang einen sicheren Handelsweg zu den Diamantminen im Süden zu erschließen, dann hätte er seine Position an der Spitze der Stadt endgültig gefestigt. Und niemand war besser für diese Aufgabe geeignet als Sebastian. Doch das hatte Zeit bis nach dem Kampf. Nur noch drei Tage, dachte er. Noch drei Tage, bis sich zeigte, ob er mit seinen Ideen richtig gelegen hatte.