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Unsichtbare Wege

Einer der vielen Kanäle des inneren Rings zog sich neben der Frau durch die riesige Höhle, während sie die breiten Straßen entlang ging. Es war mehr als ein Schlendern, doch deutlich weniger als der schnelle, präzise Gang, den sie sich über die Jahre angewöhnt hatte. Ihr Auftrag verlangte, dass sie nicht auffiel und wenn sie marschierte, würde sie auffallen. Gerade passierte sie eines der vielen Wachhäuser, die für die Sicherheit der Anwohner da waren. Vier Wachen konnte sie erkennen, eine zu jeder Seite des kleinen Häuschens. Sie nickte ihnen knapp zu und die Männer erwiderten den Gruß. Keiner von ihnen machte Anstalten aufzustehen, oder sie gar aufzuhalten. Ihre Uniform öffnete ihr Tore und es behagte ihr ganz und gar nicht, dass sie sie gleich ablegen musste.
Die Straße führte nun geradewegs auf eines der sechs großen Tore zu, doch heute würde sie nicht diesen Weg nehmen. Sie bog nach links ab und folgte den behauenen Felswänden eine Zeit lang, bis sie an ein kleineres Tor kam. Von ihnen gab es dutzende im Felsmassiv, doch man nutzte sie kaum noch. Damals, als die Stadt noch jung war, hatte man über die dahinter liegenden Gänge, die ein riesiges Labyrinth unter der gesamten Stadt bildeten, die Oberen mit allem versorgt, was sie brauchten, um über die Stadt zu herrschen. Doch nach einigen bedauernswerten Unfällen hatte man sich dazu entschieden, die Katakomben aufzugeben. Seitdem mussten sich auch die einflussreichsten Persönlichkeiten die Erfüllung ihrer Begierden auf anderem Wege besorgen. Viele der Gänge waren verfallen, andere waren mutwillig zerstört worden, doch eine ganze Reihe von ihnen war noch intakt. Doch selbst von diesen wurde keiner mehr offiziell genutzt.
Hastig blickte Angela sich um. Gut, dachte sie. Ihr war niemand gefolgt. Sie kam sich dabei beinahe lächerlich vor. Warum sollte mir auch jemand folgen? Aber sich ist sicher. Sie zog die Tür einen Spalt weit auf, sodass sie gerade noch hindurchschlüpfen konnte und zog sie hastig hinter sich zu. Finsternis umschlang sie, nur durchbrochen von einem schmalen Streifen Licht, der sich unter einer weiteren Tür mühsam hindurch kämpfte. Ohne den vor ihr liegenden Raum große Beachtung zu schenken, ging sie schnurstracks auf den Schimmer zu und klopfte. Zweimal. Dann eine Pause. Einmal. Wieder Pause. Zum Schluss schlug sie mit ihrer Faust noch dreimal gegen das Holz, dass sich selbst durch ihre weißen Handschuhe morsch und brüchig anfühlte. Niemand antwortete, doch nach einigen Sekunden hörte Angela, wie ein Stuhl langsam zurück geschoben wurde. Schlurfende Schritte näherten sich der Tür, dann wurde sie einen Spalt weit geöffnet, bis sie von einer Kette zurück gehalten wurde.
»Ja?«, sagte eine verschlafene Stimme durch den Spalt und ein Schatten verdeckte den Schein mehrerer Lichter.
»Lass mich durch.« sagte die Dienerin und funkelte den Umriss des Mannes an, doch sie bezweifelte, dass er es überhaupt sehen konnte.
»Wieso sollte ich?« Sie hob eine Augenbraue. Weigert er sich gerade wirklich? Hat er seine Instruktionen nicht erhalten, oder ist er einfach zu dumm, um zu wissen, was das für ihn bedeutet? Sie funkelte den Mann weiter böse an. Anscheinend bemerkte er es doch, denn plötzlich räusperte sich die Wache und als er wieder anfing zu reden, kroch ein schmeichelnder Unterton in seine ansonsten kratzige Stimme.
»Ah, warum sagst du nicht gleich, dass du es bist. Verzeih bitte, aber es könnte ja schließlich jeder herkommen. Warte ich will dir aufmachen.« Die Tür schloss sich wieder und Angela konnte hören, wie der Mann fahrig an etwas herum fingerte. Natürlich. Und auch jeder kennt das Zeichen. Ein Klirren ertönte jenseits des Holzes und einen Moment später, wurde die Tür wieder geöffnet und offenbarte einen weiteren Raum. Mehrere dicke, zur Hälfte herunter gebrannte Kerzen standen auf den wenigen Möbeln verteilt und spendeten ein schummriges Licht, das von den feuchten Wänden zurück geworfen wurde.
»Geht doch.«, sagte Angela. »Du wartest im Vorraum, bis ich weg bin. Hast du verstanden?« Sie brauchte die Antwort nicht zu hören. Sie sah, dass sich der Mann mit dem Dreitagebart und Bierplautze bereits einen der Schemel gegriffen hatte und nur darauf zu warten schien, an ihr vorbeizukommen. Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ ihn passieren. Im Vorbeigehen, schnappte er sich noch eine der Kerzen und schloss die Tür hinter sich.
Angela atmete auf. Schritt eins des Plans hat schon einmal funktioniert. Wenn der Rest auch so reibungslos verläuft, bin ich heute Abend schon wieder zurück in meiner Stube, mit einem warmen Getränk und einem gewaltigen Schuss Whisky. Wenn nicht, dann muss der arme Kerl wohl länger warten. Geschieht ihm Recht. Sie legte die Kette wieder vor die Tür blickte sich um, bis sie fand, wonach sie suchte. Auf einem der klapprigen Regale lag ein verschnürtes Stoffbündel. Sie nahm es, löste vorsichtig den Knoten und wickelte das Paket auseinander. Zum Vorschein kamen Hose und Hemd eines Erntehelfers. Sie rümpfte die Nase. Es roch nach Schweiß und Schlimmerem, doch sie konnte keine Flecken entdecken. Widerwillig schlüpfte sie aus ihrer sorgsam gepflegten Uniform und wickelte sie zu einem identischen Paket zusammen, dass sie mit dem dünnen Seil fein säuberlich zusammenband. Dann zog sie die andere Kleidung an und verzog angewidert das Gesicht. Es passte, doch es ekelte sie, solch niedere Kleidung tragen zu müssen. Sie würde es aushalten, so wie sie alles aushielt, was dazu gehörte, ihre Pflicht zu erfüllen.
Eine weitere Tür führte in einen Gang. Sie war verschlossen, doch der Schlüssel steckte. Sie drehte ihn um. Zuerst wehrte sich das Schloss, so als wäre die Tür Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden, doch dann brach ihr Widerstand und sie beugte sich der überlegenen Gewalt der Frau. Ihr Kleiderbündel nahm sie mit. Sie würde es auf halber Strecke irgendwo verstecken.

Die Tunnel, die Angela durchwanderte, waren schmal und niedrig und an mehr als einer Stelle musste sie sich ducken, um nicht mit ihrem Kopf an der Decke entlangzuschaben. Es war ihr schon immer schleierhaft gewesen, wie man durch diese engen Tunnel irgendetwas transportieren sollte, doch wahrscheinlich hatte es in der Blüte der Katakomben breitere und höhere Gänge gegeben. Oder waren die Menschen früher einfach kleiner? Innerlich verfluchte sie, dass sie keine Laterne mitgenommen hatte, sondern auf das flackernde Licht der Kerze angewiesen war, das bizarre Schatten an die Wände warf. Hier unten hatte man immer das Gefühl, als sei man nicht alleine und wahrscheinlich war man es auch nicht. Bei all den Arbeitern, die bei der Erbauung ihr Leben gelassen hatten, würde es sie nicht wundern, wenn die ein oder andere Seele noch heute in diesen Gängen umher wanderte, auf der Suche nach etwas Sinn in ihrer verlorenen Existenz.
Sie schluckte die Bilder runter, die in ihr aufkamen und fokussierte sich auf ihr Ziel. Stumm wanderte sie immer weiter geradeaus und gerade als sie sich fragte, wie lange es noch dauern möge, sah sie nicht allzu weit entfernt ein Leuchten. Endlich, die Tür, dachte sie und beschleunigte ihre Schritte. Sie war bereits an zwei anderen Türen vorbei gekommen, doch diese war die richtige. Sie musste sich mit der Schulter gegen das Holz stemmen, doch dann gab das verzogene Holz nach und gab den Weg frei.
Licht fiel durch die Öffnung und Angela brauchte einen Moment, um sich an das Brennen in ihren Augen zu gewöhnen. Nach und nach worden die Konturen der Häuser klarer, die sich vor ihr auftürmten. Hier im zweiten Ring sah alles so anders aus als oben im inneren Kreis oder beim Militär. Die Häuser wirkten erbärmlich und drängten sich dicht an dicht. Überall lag Müll und ein beißender Gestank nach Urin und anderem Unrat stieg ihr in die Nase und krallte sich dort fest. Angela verzog angewidert das Gesicht. Es hatte einen Grund, warum sie die gemütliche Atmosphäre eines Kaminfeuers dem hier vor zog. Langsam stieg sie die schiefen Stufen der verwahrlosten Treppe nach oben und hörte, wie die Tür hinter ihr wieder zu fiel. Sie blickte sich um. Von außen gab es keinen Henkel oder Knauf. Egal, dachte sie, zurück werde ich einfach die Fluttunnel nehmen. Nur um die Uniform, die sie stets wie einen Schatz gehütet hatte, war es ihr Schade. Sie würde versuchen sie zu bergen, sobald sie ihre Aufgabe beendet hatte.

Aus dem Schatten zweier windschiefer Häuser heraus, beobachtete sie, wie sich nicht weit von ihr entfernt Menschen begannen zusammenzurotten. Es war Zeit für die tägliche Ausfuhr. Die Arbeiter draußen auf den Feldern durften Heim zu ihren Lieben und die im Ring konnten endlich Geld verdienen. Ein erbärmliches Leben, wie sie fand. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Sie wartete einen günstigen Moment ab, dann huschte sie von Deckung zu Deckung in Richtung der Ansammlung und gesellte sich just in dem Moment, zu den bemitleidenswerten Gestalten, als sich das große Tor zum äußersten Ring öffnete und mehrere Karren, vor die je zwei Ochsen gespannt waren, hindurch fuhren und vor ihnen stehen blieben. Eine drahtig aussehende Frau mit Strohhut und einem Halm im Mund bellte einige Befehle, die Angela nicht verstand und die Menschen, die sich hinten auf den Ladeflächen befanden, begannen herunterzuspringen oder zu klettern, wenn sie keine Kraft mehr hatten. Man konnte ihnen die Erschöpfung und Verausgabung der vergangenen Woche ansehen und viele von ihnen waren erst gar nicht in der Lage, ohne Hilfe von den Ladeflächen zu gelangen. Sie beeilten sich alle in Richtung ihrer Behausungen davonzukommen, ganz so als befürchteten sie, die Frau könnte es sich anders überlegen und sie alle wieder mitnehmen.
Angela blickte gerade einem Jungen, von vielleicht siebzehn Jahren hinterher, auf dessen Beinen sich verräterische Striemen zeigten, als jemand ihr an den Kleidern zog.
»He Mädchen, ich hab dich hier noch nie gesehen. Was machst du hier?«
Langsam atmete sie ein und noch viel langsamer wieder aus. Sie hasste es, wenn man sie Mädchen nannte, denn das war sie schon lange nicht mehr. Am liebsten hätte sie diesem Idioten gezeigt, was sie war, doch sie konnte es sich einfach nicht leisten, hier und jetzt eine Schlägerei anzufangen. So begnügte sie sich damit, sich ganz langsam zu dem Störenfried herumzudrehen und dem Burschen mit dem süffisanten Grinsen zornig anzufunkeln. Es verfehlte seine Wirkung nicht. Der junge Mann wirkte irritiert und wich ein paar Schritte zurück.
»Was bist du denn für eine? Wollt doch nur wissen was du hier machst.«
»Nach was sieht’s denn aus? Ich such Arbeit, wie die andren auch.«, sagte sie und versuchte dabei extra schäbig zu klingen. Vielleicht habe ich eine Spur zu dick aufgetragen, überlegte Angela und suchte in ihrem Gegenüber ein Anzeichen von Misstrauen. Doch alles, was sie erkennen konnte, war der übliche Argwohn, der hier überall herrschte. Niemand scheint sich hier in diesem Loch zu vertrauen. Gerade wollte der Mann zu einer Antwort ansetzen, als das Gespräch von der Frau mit Strohhut unterbrochen wurde.
»Alle mal herhören. Ihr wisst wie’s läuft. Ihr klettert jetzt auf die Wagen. Wenn sie voll sind, haben die Pech, die es nicht geschafft haben. Wer damit ein Problem hat, kann sich gern bei mir beschweren.«, sagte sie und blickte erwartungsvoll in die Runde, doch die Menge schwieg. Es schien fast, als würden sie noch auf etwas warten.
»Na wird’s bald. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit und fürs Rumstehen, werdet ihr nicht bezahlt.«, sagte sie und ließ ihre Peitsche einmal durch die Luft knallen. Endlich setzte sich die Gruppe in Bewegung. Mehr noch. Plötzlich konnte es den Männern und Frauen gar nicht mehr schnell genug gehen und sie drängten sich an den schmalen Aufstiegen und einige versuchten sogar an den hohen Seitenwänden emporzuklettern. Auch Angela stürmte nach vorne und drängte jeden zur Seite, der ihr in den Weg kam. Sie brauchte einen dieser Plätze und nichts und niemand würde sie daran hindern. So gut ihr Leben als Dienerin von Mister Brandel auch war, er würde sie fallen lassen, wenn sie nicht in der Lage war, ihn zufriedenzustellen.
Sie schob und drängelte mit all ihrer Kraft und mehr als einmal landete ihr Ellenbogen in der Seite der unliebsamen Konkurrenz. Trotzdem sah es schlecht aus. Warum bin ich auch so weit hinten gestartet, dachte sie und biss sich auf die Unterlippe. Irgendjemand rammte sie in die Seite und fast wäre sie gestürzt, doch sie konnte sich gerade noch fangen. Fieberhaft suchte sie nach ihrem Angreifer, sah den jungen Mann, der sie eben an der Kleidung gezogen hatte. Er lächelte sie boshaft an und zwinkerte ihr zu, dann machte er sich daran eine Wagenleiter zu erklimmen. Sie hastete ihm hinterher. Die immer dichter werdende Menschenmenge um sie herum ignorierte sie, es gab jetzt nur noch ihn und sie und den Wagen vor ihr.
»Verflucht noch mal.«, sagte sie und schlug wild um sich, dann sprang sie den letzten Meter bis an den Karren und vergrub ihre Finger gerade noch Rechtzeitig im dürren Bein des jungen Mannes.
»Lass mich los verdammt.«
»Niemals.«
»Jetzt mach schon, oder ich zertrete dir dein Gesicht.« Sein Bein stieß von oben herab, doch Angela schaffte es mit Leichtigkeit ihren Kopf zur Seite zu werfen. Darauf hatte sie gewartet. Mit ihrer freien Hand klammerte sie sich auch noch an das zweite Bein und zog mit aller Kraft. Sie spürte, noch bevor sie es sah, wie er den Halt verlor. Sein Körper sackte auf einmal nach unten und stoppte abrupt, als sein Kinn auf das Holz traf. Ein unschönes Knacken ertönte. Sein entsetzter Schrei ging im Tumult der Menge unter. Dann kippte der Mann nach hinten über und fiel mit dem Hinterkopf zuerst auf den sandigen Boden. Er rührte sich nicht mehr.
Angela überlegte nicht einmal, ob sie ihm helfen sollte, sondern begann ihrerseits die Leiter emporzuklettern. Niemand hielt sie auf. Vielleicht hatten sie gesehen, was ich getan habe, schoss es ihr durch den Kopf und sie blickte sich schnell um. Doch niemand schien Notiz genommen zu haben. Eine Falte zog sich über ihre ansonsten so ebene Stirn. Jeder ist sich hier selbst der Nächste. Sie schwang sich über die Wand des Fuhrwerks und drängte sich zu den anderen, die schon dort saßen. Es waren nur noch wenige Plätze frei und dass sie einen ergattert hatte, bedeutet nicht, dass sie nun sicher war. Immer wieder versuchten andere, die die Seitenwände empor geklettert waren, nach ihr zu greifen und sie aus dem Wagen zu ziehen.
Kurzerhand griff sie unter sich und tastete die Sitzbank entlang. Sie fand ein loses Stück Holz und riss es mit einem Ruck heraus. Den Nächsten, der es wagte, sie anzufassen, würde sie die behelfsmäßige Waffe in die Hand treiben. Doch zu ihrer Überraschung kam es nicht dazu. Die Strohhutfrau wurde dem Schauspiel anscheinend langsam müde, denn mit einem Mal war die Luft erfüllt von mehreren Peitschenhieben und als Angela sich umsah, erblickte sie die Frau, wie sie gerade erneut zu einem Schwung ansetzte.
»Geht hinten auf die Karren, oder lasst es.«, sagte sie und überlagerte das schmerzhafte Heulen, dass ganz aus Angelas Nähe kam. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Geschieht diesen Ratten ganz recht.
Es kehrte Ruhe in das Treiben ein und nach wenigen Sekunden waren auch die letzten Plätze besetzt. Ein Blick von der Ladefläche offenbarte, dass mehr als die Hälfte zurück bleiben würde. Sie mussten hoffen, dass sie einen Platz bei einem anderen Bauern ergattern konnten, die an einem anderen Tag ihre Arbeiter austauschten. Ansonsten würden sie hungern. Mehr abschätzend als interessiert, betrachtete Angela die Männer und Frauen, mit denen sie die Kutsche teilte. Alle saßen mit verschränkten Armen vor der Brust da und blickten auf den Boden des Karrens. Eine Frau – sie mochte vielleicht dreißig Jahre alt sein und damit nicht viel älter als Angela selbst – keuchte noch immer vor Anstrengung. Sie hatte einige Kratzer im Gesicht, doch die Tatsache, dass sie hier oben saß, bewies, dass sie sich wehren konnte.
Der Mann neben ihr trug einen Vollbart, der sich schon sehr früh grau gefärbt hatte, denn wenn man nach dem Rest der Erscheinung urteilte, hatte er gerade erst das Mannesalter erreicht. Vermutlich der Stress, dachte Angela und besah sich den Rest der Gruppe. Sie alle boten mehr oder weniger das gleiche Bild. Traurige Augen, Mutlosigkeit und ein geschundenes Äußeres. Und das, obwohl die Arbeit noch gar nicht begonnen hatte. Bei einigen glaubte sie Rippen zu erkennen, die sich unter der Kleidung abzeichneten. Ein eindeutiges Zeichen für mangelnde Ernährung. Wahrscheinlich würden nicht alle die Woche überleben.
»Los jetzt, peitscht die Ochsen an.«, sagte die Frau und unterbrach damit Angelas Gedankengänge. Mehrere Peitschen waren zu hören, als die Kutscher ihrer Pflicht nachkamen. Die Frau mit dem Strohhut ging zu einem Karren, nicht unweit von Angelas und setzte sich zu einem alten Mann auf den Kutschbock. Dann setzte sich ihr Gefährt ruckelnd in Bewegung.

Eine Kutschfahrt zum Hof

Der Karren machte einen großen Bogen und fuhr aus dem Tor wieder heraus, durch welches es keine halbe Stunde zuvor hinein gefahren war. Sie befanden sich jetzt im äußersten Ring. Die Male, die es sie selbst an diesen Ort gezogen hatte, konnte Angela an einer Hand abzählen und sich dann noch mehrere Finger abschneiden. Wo man im Ring der Arbeiter noch eine gewisse Ordnung und Struktur erkennen konnte, deutete hier nur die hohe Mauer an der Stadtgrenze drauf hin, dass dies überhaupt noch ein Teil von Lokras war.
Hinter ihnen schloss sich das Tor wieder. Als ob das etwas bringen würde. Jeder wusste, dass die Vergessenen ihre Wege hatten, in die besseren Ringe vorzudringen, um sich am Hab und Gut der anderen zu bereichern und um ihrem verdienten Schicksal zu entkommen. Ihre Miene verfinsterte sich. Sie hatte noch immer nicht verstanden, warum Mister Brandel so viele von ihnen brauchte. Ein Bruchteil hätte doch gereicht, wenn er und seine Geschäftspartner sich bei einigen Kämpfen vergnügen wollten. Sie schüttelte den Kopf. Es stand ihr nicht zu, über ihren Herrn zu urteilen. Sie kannte ihren Platz und würde alles daran setzen, ihre Aufgabe zu erfüllen.
Der Karren ruckelte über eine von sechs befestigten Straßen im äußeren Ring. Langsam zogen die Bretterbuden und improvisierten Zelte der Bewohner an ihnen vorbei. Angelas Blick fiel auf eine Reihe von Frauen, die vor etwas größeren Zelten standen und sich den vorbeigehenden Leuten aufreizend präsentierten. Als ob irgendjemand von ihnen euch bezahlen könnte, dachte Angela und verzog das Gesicht. Erst gegen Abend, wenn die Tore eine Zeit lang wieder geöffnet wurden, konnten diese Mädchen ein paar Taler verdienen. Denn dann durften die Arbeiter ihren Ring verlassen und sich den Vergnügungen hingeben, die die Vergessenen ihnen bieten konnten. Angela rümpfte die Nase, als einer der jüngeren Männer sich interessiert zu den Frauen umwandte und ihnen zu pfiff. Sie ignorierten ihn, denn sie wussten, dass dieser Bursche ihnen für die nächste Woche kein Brot auf den Tisch zaubern konnte.
Die Karren fuhren nur langsam über den Weg zum äußeren Tor, einem imposanten Bauwerk, in einer gigantischen Mauer, die sich einmal um die gesamte Stadt zog und den Bewohnern ein Gefühl von Sicherheit geben sollte. Natürlich war diese Mauer nicht einmal halb so gut bewacht, wie diejenige, die den äußeren Ring von dem der Arbeiter abtrennte, denn was scherte es die Bevölkerung schon, wenn bei einem Angriff die Vergessenen daran glauben mussten. Schon lange bevor sie die gewaltigen Torflügel erreichten, tauchte sie das Mauerwerk in seinen Schatten und Angela lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Es war nicht wirklich warm heute, doch wie fast jeden Tag der letzten Wochen, sehr sonnig. Sie war an die angenehme Kühle und Dämmerung der Höhle gewöhnt und daher reichte der pure Sonnenschein, um ihr die Schweißperlen ins Gesicht zu treiben. Ihre kleine Karawane hielt in gebührendem Abstand vor dem Bauwerk an und im gleichen Moment begannen die mit Eisen beschlagenen Flügel, sich langsam zu öffnen.
Angela zählte die Sekunden, bis es endlich weiterging. Dieses Verhalten hatte sie im Militär angenommen. Es half ihr konzentriert zu bleiben und schulte das Gehirn. Es dauerte exakt 173 Sekunden, bis es weiterging. Während sie durch die breite Öffnung fuhren, konnte sie den Mechanismus erkennen, mit dem das Torhaus betrieben wurde. In den Mauern waren mehrere Räder aufgestellt, um die herum bestimmt zwanzig Menschen standen und mit all ihrer Kraft marschierten, um das Tor zu öffnen. Gerade als Angelas Wagen hindurch fuhr, knallte eine Peitsche und sie drehten sich um und begannen in die andere Richtung im Kreis zu laufen und die Flügel begannen sich ebenso langsam wieder zu schließen. Fast bekam sie Mitleid mit diesen glücklosen Seelen, die sich hier verdingen mussten, um Essen auf den Tisch zu bringen, doch schließlich hatte das Schicksal es so eingerichtet.

Ihr Weg führte sie nun die letzten hundert Meter den Berg hinab und dann über eine Ebene. Hier begann das goldene Land. Es hatte seinen Namen durch das Getreide, welches im Sommer die Felder golden anmalte. Die meisten Felder standen noch in voller Pracht, doch hier oder da konnte man Lücken erkennen, dort, wo schon mit der Ernte begonnen wurde. Der Weg war ebenso befestigt, wie in der Stadt, damit die Kutschen mit Arbeitskräften und Nahrungsmitteln ungehindert darauf fahren konnten und selbst bei Unwettern nicht stecken blieben.
Noch etwas ändert sich. Die Kutsche wurde nun von einem Aufgebot von Soldaten begleitet. Lokras schützte seine Felder mit einer Hingabe und Genauigkeit, wie man es innerhalb der ersten drei Kreise niemals sehen würde. Angela bezweifelte, dass es selbst im Militär und innerem Kreis so viele Soldaten und Wachleute gab, wie hier. Aber wer wollte es den Regierenden vorwerfen? Immerhin war Lokras die Kornkammer des gesamten Umlandes und wenn es diese Stellung und damit seinen Reichtum behalten wollte, dann mussten die Felder verteidigt werden.
»Was ist denn das da?«, sagte der junge Mann mit dem grauen Bart und zeigte mit zittrigen Fingern auf etwas, das hinter Angela lag.
»Ist das dein erstes Mal außerhalb der Mauern?«, sagte eine ältere Frau.
»Ja.«
»Gewöhn dich besser an den Anblick. Wer sich an dem Getreide vergeht, der wird aufs Rad gespannt.«
»Aber das ist doch Wahnsinn.«
»Nein, mein Junge. Das ist einfach die Realität.«, sagte die Frau und zuckte mit den Achseln. Auch Angela hatte sich umgewandt und blickte auf die kümmerliche Gestalt, die in einigen Metern entfernt, auf ein riesiges Holzrad geflochten wurde. Die Soldaten hatten ihm schon die Knochen an Armen und Beinen gebrochen, doch anscheinend hatte er nicht genug Geld dabei gehabt, um sie zu bestechen. Man hatte ihm den schnellen Ausweg verwehrt. In seinen Augen konnte man den Schmerz sehen und sein Wimmern war bis auf die Kutsche zu hören.
»Bitte, bitte. Tötet mich doch einfach.«, sagte der Totgeweihte.
»Halt die Klappe. Du hast selbst Schuld. Hättest dich nicht an den Vorräten vergreifen sollen.«
»Ich hatte doch nur Hunger.«
Dann waren sie zu weit weg, und die Felder um sie herum verschluckten die nächsten Wörter. Etwas in den Augen den jungen Mannes war zerbrochen und den Rest der Fahrt sagte niemand mehr ein Wort.
Sie brauchten noch eine gute Stunde, bis sie ihr Ziel erreichten, doch zum Glück für das schwache Gemüt des jungen Knaben, wiederholte sich das grausige Schauspiel nicht noch einmal. Dann fuhren sie von der großen Straße auf einen kleineren, aber ebenso befestigten Weg. Am Ende des Weges lag ein kleiner Hof. Einige der Großbauern hatten auf ihrem Grund zwanzig oder sogar dreißig Baracken für die Arbeitskräfte errichtet, dieser hier hatte lediglich zwei. Und das war auch der Grund, warum Mister Brandel ihn ausgesucht hatte. Die großen Bauern wären nie auf sein Angebot eingegangen, ohne zu viel dafür zu verlangen oder ihren Herrn in eine Situation zu bringen, die unangenehm für ihn werden konnte. Dieser hier jedoch wurde von seiner Konkurrenz bedroht und war drauf und dran alles zu verlieren. Kurzum, er konnte einen Freund gut gebrauchen.

Die Kutschen hielten vor den Baracken und wieder knallte die Peitsche der Frau durch die Luft.
»Ihr habt fünf Minuten, um euch euer Bett in den Baracken zu suchen und etwas zu essen, dann geht’s auf die Felder!«, sagte sie. Hastig begannen die Leute von den Ladeflächen zu springen und auch Angela sprang hinunter und ließ sich von den anderen mitreißen. Eine Weile noch musste sie das Spiel mitspielen, bevor sich endlich eine Gelegenheit ergab. Langsam dämmerte es ihr, dass sie heute Abend keineswegs mehr in ihrem heimischen Bett schlafen würde.
Während der Strom sie zu den Baracken mitriss, sah sie sich um. Das durchaus stattliche, aber etwas heruntergekommen anmutende Herrenhaus war von Wachen umstellt. Es würde nicht einfach werden, sich dort einzuschleichen, doch genau das musste sie tun. So wie sie den Lagebericht verstanden hatte, waren im Inneren noch einmal fünf Soldaten rund um die Uhr damit beschäftigt, für Sicherheit zu sorgen. Das Einfachste wäre es, sich in das Schlafzimmer des Bauern zu schleichen und dort mit ihm zu verhandeln, doch das würde nicht gerade Vertrauen schaffen und Mister Brandel bestand darauf, dass man seinen Geschäftspartnern die Möglichkeit gab, ihm zu vertrauen.
Dann verschluckte sie das Halbdunkel der Baracke. Der Raum war nicht beleuchtet und so konnte sie nur dank der wenigen Sonnenstrahlen, die durch die brüchige Decke drangen, die Umrisse der gut dreißig Betten erkennen, die aneinander gereiht, in dem großen Raum standen. Es gab keinen Fußboden, nur fest getretene Erde und auch sonst, gab die Einrichtung nicht viel her. Es gab keine Schränke, oder Stühle. Das Einzige, was herausstach, war der Bretterverschlag in einer Ecke des Raumes. Vermutlich, um sich zu erleichtern, dachte Angela.
Sie wartete geduldig, bis der Rest sich ein Bett ausgesucht hatte und nahm sich dann das letzte. Bei manchen brachen kleinere Streitereien aus, doch solcherlei Dinge bedeuteten ihr nichts. Angela war in ihrem Kopf schon wieder bei ihrem Auftrag. Vielleicht würde sie es schon heute Nacht wagen, dann könnte sie zumindest morgen wieder in ihrem eigenen Bett schlafen. Doch wie sollte sie den Bauern dazu bringen, sich überhaupt mit ihr einzulassen? Eine Idee keimte in ihr auf, doch so oder so, sie musste bis heute Nacht warten.
»Was braucht ihr denn so lange?«, rief jemand außerhalb der Baracke. Es war die Stimme eines Mannes. Grobschlächtig und viel zu sehr an seine Position gewöhnt. Und tatsächlich, als Angela blinzelnd wieder in die Sonne ging, sah sie einen muskulösen Hünen, dessen Augen verrieten, dass nicht zu viel Grips in dem kleinen Kopf steckte.
»Ihr habt mich verstanden. Auf jetzt. Arbeit ruft.«, brüllte er immer noch viel zu laut, obwohl sich alle bereits vor ihm versammelt hatten. Man konnte ihm ansehen, dass er Spaß daran hatte, andere zu quälen und Angela hatte nicht vor, ihm einen Vorwand zu liefern, obwohl sie wohl spielend mit ihm fertig geworden wäre. Und so fügte sie sich dem Befehl und trottete mit den anderen zum Feld, ohne überhaupt die Gelegenheit gehabt zu haben, etwas zu essen.
Die Arbeit war hart, doch nicht halb so anstrengend wie die Langeweile. Während Angela der Schweiß über den Körper lief, zählte sie die Sekunden, bis es endlich Abend war. Hoffentlich habe ich dann überhaupt noch genug Kraft, dachte sie. Zuerst hatte sie die Arbeit unterschätzt und war mit viel zu viel Elan herangegangen. Sie musste die Ähren zusammen binden, die einer der anderen vorher mit der Sense niedergemäht hatte. Andere waren mit Sicheln ausgestattet und ernteten die übrig gebliebenen Ähren in einzelnen Bündeln ab. Es waren simple Tätigkeiten, doch das ständige Bücken und Aufrichten, hätte selbst den trainiertesten Körper irgendwann in die Knie gezwungen. Dazu kam noch, dass es eine eintönige Arbeit war, und das gab ihr den Rest. Gern hätte Angela einfach ihre Sachen hingeschmissen und wäre direkt zum Bauern Troy gegangen und ein paar Mal hatte sie bisher auch schon ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, doch sie kam immer wieder zur Vernunft. Schließlich hätte das bedeutet, dass ihr Plan oder zumindest sie selbst auffliegen würde, was wiederum Mister Brandel in Schwierigkeiten brächte. Und das würde sie sich niemals verzeihen.

Die Botschaft

Die Sonne stand noch hoch am Himmel, als einer der Aufseher, es war der große Dumme, eine Pause ausrief und sich an einem Wassertrog aufstellte. Dort schenkte er jedem der Arbeiter einen großen Becher Wasser ein und wartete, bis sie alle getrunken hatten. Dann mussten sie wieder arbeiten. Es dauerte nicht einmal bis zum Abend, als der erste zusammenbrach. Es war der junge Mann, der auf dem Hinweg noch den Huren den Hof gemacht hatte. Der Aufseher, Pascal, ließ ihn von zwei anderen Erntehelfern in die Baracke bringen. Morgen würde er wieder auf dem Feld stehen und bis zum Umfallen arbeiten, doch vielleicht war er bis dahin schlauer und kannte seine Grenzen. Vielleicht aber auch nicht.
Angela war schlauer. Sie teilte sich ihre Kräfte ein und als sie sich erst einmal richtig eingearbeitet hatte, tat sie nicht mehr, als sie musste. Sie war nicht faul, doch sparte jedes bisschen Kraft, dass sie konnte. Sie war mehr als entschlossen, den Job heute noch anzugehen.

»Werkzeuge weg.«, sagte Pascal, als die Sonne schon lange hinter der nächsten Hügelkuppe verschwunden war. Nacheinander räumten sie die Sensen, Sicheln und Karren in die Schuppen. Als sie zurück auf den Hof mit den Baracken kamen, stand ein großer Kessel in der Mitte und ein etwas schmächtig aussehender Junge, mit einer schmutzigen Schürze stand davor und kratzte sich nervös den Kopf unter seiner zu großen Kochmütze. Neben ihm stand ein Berg aus Schalen und Besteck.
Sie nahmen sich alle etwas und der Junge goss ihnen Eintopf ein. Angela probierte. Er bestand zum Großteil aus Fett und Resten, die andere nicht essen wollten, doch es vertrieb den Hunger, der sich den Tag über gebildet hatte und mittlerweile schonungslos in ihren Eingeweiden wütete. Alle aßen schweigend, die wenigsten hatten überhaupt noch die Kraft sich zu unterhalten und die, die sie noch hatten, ließen es aus anderen Gründen sein. Angela zwang sich ihr Essen runter und holte sich einen zweiten Krug Wasser, nachdem sie den ersten in einem Zug gelehrt hatte. Dann noch einen. Als sie zum vierten Mal zum großen Wasserfass ging, schaute sie der Junge irritiert an.
»Hab halt Durst.«, sagte sie kurz angeboten und blickte finster. Der Junge hielt ihrem Blick einige Sekunden stand, bevor er sich hastig dem nächsten Hungrigen zuwandte. Nachdem Angela damit angefangen hatte, gingen immer mehr von ihnen zum zweiten oder sogar dritten Mal zum Ausschank, während sie sich bereits wieder in das Dunkel der Baracke flüchtete, um auf den richtigen Moment zu warten. Wahrscheinlich werden sie uns nachts bewachen lassen, damit wir keinen Unfug anstellen, dachte Angela, während sie sich auf die harte Pritsche legte. Sofort drang die Feuchtigkeit durch ihre Kleidung und benetzte ihren Rücken. Würde sie hier länger als ein, oder zwei Nächte verbringen, würde sie sich eine Erkältung holen.
Nach und nach kamen die anderen, doch anstatt über den zurück liegenden Tag zu reden, fielen sie in ihre Betten und bald schon erfüllte ein Sägen den Raum, als würde keine zwei Meter weiter ein Wald gerodet. Angela lag mit halb geschlossenen Augen auf der Pritsche und betrachtete die Decke. Wieder zählte sie die Sekunden und lauschte, ob auch wirklich alle schliefen. Als sie sich sicher war, nach 1988 Sekunden, erhob sie sich leise wie eine Katze vom Bett und spähte in die Dunkelheit. Die Türen waren verschlossen und sie glaubte tatsächlich den Ansatz mehrerer Stiefel unter dem Spalt zu erkennen. Die Wände bestanden aus einfachen Brettern und überall fiel ein wenig Mondlicht hinein. Das war gut, denn so konnte sie halbwegs erkennen, wohin sie trat, sie selbst war von draußen aber weitestgehend unsichtbar.

Ihr Bett stand an der hinteren Wand, gegenüber der Sickergrube. Hier war der Gestank am schlimmsten und alle anderen hatten einen großen Bogen um dieses Bett gemacht. Das kam ihr jetzt zugute. Nachdem sie kurz und ohne viel Erfolg, die Wand inspiziert hatte, schlich sie die wenigen Schritte bis zu dem Verschlag. Er bestand aus zwei groben Bretterwänden, mit noch mehr Durchlässen, als die Baracke selbst und diente wohl eher dazu, dass niemand nachts hinein fiel, als die Privatsphäre der Leute zu schützen. Es gab keine Tür, nur eine schmale Öffnung. Im Inneren stank es noch mehr, doch Angela blendete es aus. Sie hatte schon schlimmeres gerochen. Es gab hier nicht viel zu sehen, nur ein breites Loch, über das ein Balken gehängt worden war, worauf man sich setzen konnte, um sich zu erleichtern. Etwas höher war noch ein weiterer Balken, gegen den man sich lehnen konnte, um nicht selbst in die Grube zu stürzen. Doch das interessierte sie nicht. Was ihre Aufmerksamkeit erregte, war der Spalt zwischen Boden und Bretterwand, den man gelassen hatte, damit der Gestank zumindest ein wenig abgeführt wurde. Gegen den Geruch half es wenig, doch ihr kam es gerade recht. Er war nicht sonderlich hoch. Nicht einmal einen halben Meter, aber sie war auch nicht sehr stämmig gebaut. Sie ging zum Rand der Grube, die fast die gesamte Breite des Raumes einnahm und schob sich zur gegenüber liegenden Seite.
Auf einmal verlor ihr Fuß den Halt und rutschte in die Grube. Kurz ruderten ihre Hände in der Luft, dann bekamen sie den oberen Balken zu fassen. Ihr Fuß schwebte nur eine Handbreit über der stinkenden Masse im Loch. Sie keuchte, wollte die Luft tief einsaugen. Doch sie zwang sich, es nicht zu tun. Angela wusste, dass sie sich dann erbrochen hätte, was die anderen wecken oder noch schlimmer, die Wache auf sie aufmerksam machen konnte. Behutsam zog sie den Fuß wieder hoch und setzte ihn auf die andere Seite. Ihre Zehenspitzen waren schon im Freien und spürten die frische nächtliche Luft. Langsam ließ sie sich auf alle viere herab und presste sich dabei so gut sie konnte gegen das Holz. Dann steckte sie den rechten Arm und das rechte Bein komplett ins Freie und zog sich seitwärts nach draußen. Sie musste ein wenig ziehen und zerren, um ihre Hüften durch den engen Spalt zu zwängen, doch nach einem beherzten Ruck war sie frei.
Sie verlor keine Zeit. Schnell huschte sie in den Schatten von einigen Fässern, die neben einem der Lagerhäuser aufgestapelt standen. Sie lauschte. In einiger Entfernung konnte sie die Wachen lachen hören. Anscheinend waren sie betrunken. Warum auch nicht, dachte sie. Wahrscheinlich gibt es hier draußen für sie nichts anderes zu tun. Sie wartete noch kurz, bis sie sich sicher sein konnte, dass keiner der Wachen plötzlich auf die Idee kam, Patrouille zu laufen. Dann schlich sie um das Lagerhaus herum, um möglichst viel Platz zwischen sich und die Baracken zu bringen. Hier hinten war keine Menschenseele. Sie richtete sich ein wenig auf und ging dicht an einer Wand in Richtung des Herrenhauses, immer darauf achtend, nicht aus den Schatten zu treten.

Es war rückblickend einfacher, als sie erwartet hatte. Nach nicht einmal fünf Minuten fand sie ein offenes Fenster im ersten Stock, hinter dem kein Licht brannte. Für Angela war das, wie eine Einladung. Mit prüfendem Blick musterte sie das Gemäuer und fand einen Aufstieg, der vielversprechend aussah. Mit schnellen Bewegungen, packte sie einen hervorstehenden Stein und zog sich ein Stück an der Fassade hoch. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand sie jeden noch so winzigen Vorsprung und zog sich Stück für Stück nach oben.
Dann hörte sie Schritte. Sie konnte es sich nicht leisten, jetzt erwischt zu werden. Nicht, wo sie schon so weit gekommen war. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen und schob sich just in dem Moment über den auslandenden Fenstersims, als zwei der Wachen um die Ecke kamen.
»Und du bist dir sicher, dass du was gehört hast?«, sagte eine hochgebaute Frau mit breiten Schultern ihren, neben ihr wie ein Zwerg wirkenden, Partner.
»Wenn ich’s dir doch sage. Da schleicht jemand rum.«
»Also ich sehe hier niemanden.«
»Ich bin mir sicher, dass hier jemand ist.«
Angela stockte der Atem. Der Sims mochte das meiste von ihr verdecken, doch noch war es möglich, sie von unten zu entdecken. Sie atmete flach und drückte sich an die Fassade, während ihre Hand durch das halb geöffnete Fenster glitt und den Mechanismus suchte, mit dem es sich aushebeln ließ.
»Jetzt komm schon. Wir gehen noch eine Runde und dann geht’s wieder ans Feuer. Es müsste auch noch etwas von Jannis Selbstgebranntem da sein.«, sagte die Frau über ihre Schulter zu der anderen Wache. Dieser zögerte kurz und sah sich noch einmal in allen Richtungen um. Doch er sah nicht nach oben. Sie alle vergessen immer, nach oben zu schauen, dachte Angela. Niemand rechnet damit, dass sich etwas über ihnen befindet. Ihre Finger ertasteten einen kleinen Hebel. Jetzt kam es aufs Timing an. Sobald sie den Hebel drückte, würde das Fenster aus der Fassung fallen. Eine unglaublich schäbige Konstruktion, die langsam aus der Mode kam, doch noch gab es sie in den meisten Häusern, die sich Fenster leisten konnten. Aber wenn sie nicht perfekt reagierte, würde das Klirren der zerberstenden Scheibe, die Anwohner und Wachen alarmieren.

Sie wartete, bis die Schritte der Wachen verklungen waren. Dreimal atmete Angela tief ein, dann drückte sie zu. Im selben Moment, als die Scheibe aus der Fassung gedrückt wurde, schnellte ihre andere Hand nach vorne und umfasste den Rand. Die Scheibe glitt hindurch. Durch die Kletterei war sie einfach zu feucht geworden, als dass es ihr möglich wäre, sie sicher zu fassen. Wie in Zeitlupe fiel sie dem Boden entgegen. In ihrer Verzweiflung ließ sie mit der anderen Hand den Hebel los und versuchte mit ihr die Scheibe zu halten. Sie packte das Glas an einer Ecke, doch anstatt sie aufzuhalten, drehte sie sich nur einmal um die eigene Achse und änderte ihre Flugbahn. Doch es gab keinen Aufprall, kein Zersplittern, keinen Lärm.
Verwundert spähte Angela in die Dunkelheit, doch sie konnte nicht erkennen, was die Scheibe gebremst hatte. Mit einer leisen, doch ebenso schwungvollen Bewegung, schob sie ihren Körper durch die Öffnung und setzte mit den Füßen auf. Sie spürte das bloße Holz unter den Sohlen. Es knarrte leicht. Sie musste aufpassen, wenn sie sich nicht verraten wollte. Sie wartete, bis sich ihre Augen an die neue Umgebung gewöhnten.
Der Raum, in den sie gestiegen war schien ein Ankleidezimmer zu sein. Den Kleidern nach zu urteilen, die in den offenen Schränken hingen, gehörte es der Frau des Hauses. Angela fuhr mit ihren Fingern über die weichen Stoffe, dann löste sie sich von dem Anblick und schlich zur Tür, die wie sie annahm, zum daneben liegendem Schlafzimmer führte. Bei jedem Schritt knarrte das Holz unter ihren Füßen ein wenig, doch nur so viel, dass ein zufälliger Hörer, es auch für das übliche Atmen des Hauses halten konnte. Den Kopf an die Tür gelegt, lauschte sie. Sie glaubte Atmen und Schnarchen zu hören, doch niemand unterhielt sich und auch sonst deutete nichts darauf hin, dass die Bewohner noch wach waren.
Vorsichtig drehte sie am Knauf. Er ließ sich problemlos bewegen und machte nicht das geringste Geräusch. Innerlich dankte sie den Göttern dafür, dann drückte sie langsam die Tür auf. Sie hatte Recht gehabt, vor ihr lag das Schlafzimmer und dem gewaltigen Körper nach zu urteilen, lag dort der Bauer Troy persönlich. Seine Gattin wirkte neben seinen fettgefüllten Wangen besonders zierlich und zerbrechlich. Speichel lief an seiner Wange hinab und benetzte das üppige Kopfkissen unter ihm. Mit angewiderter Miene wandte Angela den Kopf ab und suchte nach etwas zum Schreiben. Auf dem Sekretär in einer Ecke des Zimmers wurde sie fündig. Sie nahm sich ein Blatt Papier, Tinte und Feder und kritzelte schnell eine Nachricht. Wenn sie wissen wollen, wie Sie Ihren drohenden Ruin noch abwenden wollen, dann stellen sie morgen Abend eine Kerze in das Ankleidezimmer ihrer Frau und lassen das Fenster offen. Ich werde dann zu ihnen kommen. Sie faltete den Zettel einmal in der Mitte und legte ihn so auf das Möbelstück, dass der Bauer ihn finden musste, wenn er morgen seine Korrespondenz abwickelte.

Auf dem Rückweg erblickte sie die Scheibe. Sie war auf einen Haufen achtlos weggeworfener Kleidung gefallen und hatte so den Sturz überlebt. Sie wieder einzusetzen war eigentlich einfach, doch Angela musste es von draußen tun, was ihr einiges an Fingerspitzengefühl abverlangte, doch nach gut zehn Minuten Arbeit, saß sie so gut in der Fassung, wie zuvor.
Die Wachen hatten sich ans Feuer zurückgezogen, gaben sich vermutlich dem Alkohol hin und so gelang es Angela ohne Probleme zurück zur Baracke zu gelangen und hineinzuschlüpfen. Drinnen war alles ruhig, und so kletterte sie wieder über die Grube und legte sich in ihr Bett, um noch ein wenig Schlaf zu bekommen.

Ärger auf dem Hof

Die Nacht war kurz gewesen, selbst für Angela. Sie kannte aus ihrer Zeit beim Militär zwar härtere Entbehrungen als eine Nacht mit wenig Schlaf, doch sie war seit ihrer neuen Anstellung weich geworden. Und so ging sie nach dem Weckruf mit Müdigkeit in den Augen nach draußen, um dort ihr Frühstück in Empfang zu nehmen.
»Du siehst echt beschissen aus.«, sagte die Köchin. Anscheinend hatte die beleibte Frau, die durch ihre Fülle, dem Bauern nicht unähnlich war, den schmächtigen Jungen abgelöst und schien in allen Belangen sein Gegenteil zu sein. Angela grunzte verschlafen zurück und zwang sich zu einem Lächeln. Sie ertappte sich dabei, wie ihr Blick immer wieder in Richtung des Herrenhauses huschte und nach einem Zeichen des Bauern Ausschau hielt, obwohl sie wusste, dass es noch viel zu früh dafür war. Sie nahm die Schüssel mit dünner, aber umso fettigerer Suppe und den Kanten Brot entgegen und setzte sich etwas abseits von den anderen gegen eine Baracke und schlang die warme Brühe hinunter. Es schmeckte widerlich, doch sie wollte sich nicht beschweren. Es brachte die Wärme in ihre Knochen zurück und zumindest schmeckte es nach etwas, auch wenn es nur Salz war. Obwohl die Suppe fast nur aus Wasser bestand, war sie danach durstiger als vorher und holte sich gleich zwei Krüge Dünnbier hintereinander.
»So ihr faules Pack. Genug gegessen. Jetzt geht’s wieder aufs Feld!« Angela erkannte die Stimme als die von Patrick und nur wenige Sekunden später sah sie den bullengleichen Mann um eine Ecke auf den Platz stampfen. Sie seufzte hörbar.
»Was ist denn das? Behagt es der Prinzessin nicht? Denkst wohl du bist zum Spaß hier.«, der Mann fokussierte sie mit seinen kleinen, gehässigen Augen und kniff sie so weit zusammen, dass man die Pupillen nur noch erahnen konnte.
»Bin nur müde.«
»Auch noch frech werden. Warte dir werde ich’s zeigen, was es heißt, mir dumm zu kommen. Castello, Jahn. Packt sie.«

Ehe Angela noch irgendetwas anderes machen konnte, wurde sie von vier kräftigen Händen auf die Beine gezogen und mit dem Gesicht gegen die Wand gepresst. Sie ahnte, was nun folgen würde und als sie hörte, wie sich die Lederpeitsche des Aufsehers ausrollte, hatte sie Gewissheit. Die Männer machten sich gar nicht erst die Mühe, ihr das Hemd auszuziehen, oder ihr einen Stück Holz zu geben, auf das sie beißen konnte. Lediglich ihre Hände banden sie an einen eisernen Ring, der in die Wand der Baracke eingelassen war. Bisher hatte Angela gedacht, die seien dazu, das Vieh anzubinden, doch sie erkannte jetzt, dass sie sich geirrt hatte. Das Letzte, was sie sah, bevor sie die Augen schloss, waren die feinen gold-braunen Spuren an der Wand. Vielleicht nur Farbe, dachte Angela, wusste jedoch, dass es nicht stimmte. Es war getrocknetes Blut. Sie wappnete sich auf das was unweigerlich kommen musste, presste die Lippen zusammen und betete, dass sie es schaffte nicht zu schreien.
Auf dem Platz herrschte absolute Stille, nicht einmal die sonst so präsenten Grillen wagten es zu zirpen und ein leiser Wind fuhr fast zärtlich durch ihr Haar, als wolle er ihr sagen, dass alles gut wird. Zuerst hörte sie den Knall. Dann kam der Schmerz. Angela spürte, wie Leder auf Kleidung traf und das Hemd mühelos durchtrennte. Dann grub sich das furchtbare Werkzeug in ihre Haut, ließ sie platzen. Der Stoff begann fast augenblicklich das Blut aufzusaugen. Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie schrie nicht. Noch nicht. Wieder hörte sie den Knall und wieder traf der Aufseher sein Ziel. Angela keuchte, presste die Lippen zusammen. Mittlerweile liefen ihr die Tränen im Wettkampf mit dem Blut den Körper hinunter. Wieder und wieder ließ der Mann seine Peitsche durch die Luft schnellen. Doch Angela blieb standhaft, ertrug die Tortur. Wie durch ein Wunder schaffte sie es nicht zu schreien.
Nachdem der letzte Hieb durch die Luft geschnellt war, brach sie zusammen, sank auf die Knie. Durch ihre, an die Wand gefesselten Hände blieb sie in der Hocke sitzen und es sah so aus, als würde sie beten. Blutige Striemen liefen kreuz und quer über ihren Rücken und das Hemd hing nur noch in groben Fetzen von ihrem Körper. Sie konnte nicht sagen was mehr weh tat, die Schmerzen oder die Erniedrigung. Auch nachdem die Schläge schon lange verklungen waren, liefen ihr die Tränen weiter die Wangen herab und benetzten ihre Beine.
»Mach sie los, reinige ihr die Wunden und gib ihr ein neues Hemd. Dann soll sie zum Feld kommen.«, sagte der Aufseher, nachdem er sich noch eine Weile an ihrem Anblick ergötzt hatte. Angela konnte nicht erkennen, wen er mit seinem Befehl gemeint hatte, doch wenige Sekunden später, sah sie, wie die massige Gestalt der Köchin neben ihr kniete und ihr Gesicht ein wenig anhob.
»Du hättest sie fast getötet Pascal.« Lag da eine Spur Abscheu in ihrer Stimme? Angela konnte es nicht sagen. Nur am Rand bekam sie mit, wie ihre Fesseln gelöst wurden und mit dem Bauch nach unten auf etwas weiches gelegt wurde. Die Köchin begann die Kleidungsreste aus den Wunden zu picken und sie mit warmem Wasser zu säubern. Angela zog bei jeder Berührung scharf die Luft ein.
»Was glotzt ihr denn so. Hab ich nicht gesagt, ihr sollt aufs Feld gehen? Wir bezahlen euch nicht fürs nichts tun.«, hörte sie die Stimme ihres Peinigers, doch sie hörte sich seltsam verzerrt und weit weg an. Hätte ich doch bloß meinen Ring dabei. Dann würde ich ihn in der Luft zerfetzen.
»Schon gut. Ich hab’s gleich. Nur noch diese eine hier.«, sagte die Köchin. Ihre tiefe Stimme hatte etwas beruhigendes, fast einschläferndes.

Das nächste was Angela mitbekam war, wie ihr das Kinn angehoben wurde und man ihr etwas zu trinken einflößte. Irgendetwas spannte sich um ihren Oberkörper. Hatte sie geschlafen? Sie wusste es nicht. Sie lag nicht mehr, sondern saß auf dem Platz vor den Baracken. Sie blickte an sich herab. Man hatte ihr einen Verband angelegt. Ihr Rücken brannte, doch nicht so schlimm, wie sie es erwartet hatte. Wahrscheinlich eine Salbe, dachte sie. Dann bemerkte sie die Köchin, die neben ihr saß, noch immer eine Kelle mit Dünnbier in der Hand.
»Wie geht es dir?«, sagte sie freundlich und nickte ihr aufmunternd zu. Angela nahm noch einen Schluck.
»Geht schon.«
»Sehr gesprächig bist du wohl nicht. Na, wer kann’s dir schon verübeln.« Die Frau mit dem runden Gesicht, griff in einer fließenden Bewegung, die Angela ihr gar nicht zugetraut hatte hinter sich und zog etwas schmutzig-weißes aus einem Beutel mit der gleichen Farbe.
»Ich würde dich am liebsten noch hier behalten, doch dann komme ich selbst in des Teufels Küche. Zieh das an, trink noch etwas und dann geh aufs Feld.«, Bedauern lag in ihrer Stimme und Angela spürte, dass sie meinte, was sie sagte. Sie nickte ihr dankbar zu und nahm das neue Hemd. Es stank erbärmlicher als ihr letztes und hatte an einigen Stellen Löcher, doch es würde ihre Blöße bedecken.
»Wie heißt du eigentlich?«, wollte die Köchin wissen. Kurz überlegte Angela, dann entschied sie sich die Wahrheit zu sagen. Was hatte sie schon davon, hier einen falschen Namen zu benutzen?
»Angela.«
»Freut mich Angela, ich bin Guni. Wenn du irgendetwas brauchst, dann komm ruhig zu mir, ich bin die gesamte Woche da.« Guni tätschelte noch einmal ihren Kopf, dann erhob sie ihren massigen Körper und machte sich auf, in Richtung des Hauses. Angela blickte ihr hinterher, bis sie verschwunden war. Dann nahm sie die Kelle, die die Köchin dagelassen hatte und schöpfte sich ihren Krug voll und trank. Sie zog sich das Hemd an und band es zusammen. Es schmerzte, als sich der Stoff über den Verband legte, doch sie würde es aushalten. Wie gern hätte sie jetzt einen Heiler aufgesucht, doch sie wusste, dass das unmöglich war.
Sie erhob sich stöhnend und drohte für einen Moment, das Gleichgewicht zu verlieren, doch dann fing sie sich wieder. Leicht schwankend ging sie in Richtung der Felder. Ihre Gedanken wanderten wieder zu ihrem Auftrag und sie hoffte, dass der Bauer die Nachricht las und die Kerze ins Fenster stellte. Ansonsten würde sie andere Seiten aufziehen müssen. Es war ihr jetzt egal auf welche Art und Weise sie ans Ziel kommen würde. Zwar bevorzugte sie immer noch den friedlichen Weg, alleine weil Mister Brandel dann zufriedener mit ihr sein würde, doch Hauptsache war, dass er bekam, wofür er sie geschickt hatte.

Die Arbeit war unerträglich hart. Bei jeder Bewegung schmerzte ihr Rücken und Angela spürte, wie die Wunden sich an dem Verband immer weiter aufscheuerten. Doch sie wagte es nicht, sich auszuruhen. Pascal behielt sie immer im Auge, lauerte auf eine Gelegenheit, sie erneut zu quälen. Er würde noch sehen, was er davon hatte, schwor sie sich, während sie sich bückte und mit einer Sichel Ähren vom Boden abtrennte und in einen Korb auf ihrem Rücken warf. Der Aufseher peitschte die Männer heute besonders hart an und ließ ihnen kaum Pausen. Erst als die Sonne schon hoch am Himmel stand, ließ er einen der Stallburschen Wasser und Brot an die Arbeiter verteilen. Das kühle Nass benetzte ihre Lippen. Sie blickte die Menschen an, mit denen sie hier schuften musste. Viele von ihnen würden es nicht mehr lange aushalten. Manche Gesichter waren vor Anstrengung nicht einmal mehr rot, sondern schon wieder ganz weiß geworden. Kein gutes Zeichen.
Der Knall einer Peitsche ertönte, gefolgt von einem Schrei. Unwillkürlich zuckte Angela zusammen und ihre Wunden begannen sofort wieder zu kribbeln. Doch es war nicht sie, die getroffen wurde. Einige Meter entfernt lag der gleiche Junge, der gestern schon zusammengebrochen war, vor dem vor Wut verzerrtem Gesicht des Aufsehers. Er krümmte sich vor Schmerzen, während Pascal wieder und wieder die Peitsche auf ihn nieder fahren ließ.
»Steh auf! Los, lauf doch.«, sagte er bei jedem Schlag. Viele der Leute senkten ihren Blick und wandten sich ab. Man sah, dass sie helfen wollte, nur fehlte ihnen der Mut. Auch Angela juckte es in den Fingern, irgendetwas zu tun und an jedem anderen Tag, hätte sie es auch, doch sie konnte nicht. Was war das? Angst? Sie konnte sich einfach nicht bewegen, sich nicht einmal abwenden. Sie fühlte jeden Peitschenhieb, als wäre sie es, die dort vorne lag. Tränen liefen ihre Wange hinunter, wie auch an der des Jungen. Doch sein Gesicht war beinahe teilnahmslos. Er schrie nicht einmal mehr. Er hatte sich in sein Schicksal eingefügt. Etwas war in ihm gestorben.
Pascal hatte noch ein paar Minuten weiter auf den Jungen eingeprügelt, dann hatte er ihn einfach liegen gelassen. Sofort waren Leute herbeigeeilt und hatten ihn weggetragen. Wahrscheinlich würde sich Guni genauso um ihn bemühen, wie um Angela, doch ihr war klar, dass auch wenn seine Wunden versorgt waren, er nie wieder auf die gleiche Weise lächeln würde, wie er es bisher getan hatte.
Der Tag verging. Niemand wagte es mehr, sich einem Befehl des Aufsehers zu widersetzen oder sich auch nur auffällig zu verhalten. Eine Wolke der Angst lag über den Arbeitern und Pascal gab sich alle Mühe sie wachsen zu lassen. Ständig schlich er um sie herum, baute sich vor ihnen auf und schwang drohend seine Peitsche. Als es endlich Abend war und sie Feierabend hatten, schlurften sie erschöpft zum Platz. Guni stand am Kochtopf und lächelte allen aufmunternd zu. Als Angela an der Reihe war, hielt sie kurz inne.
»Wie geht es deinen Wunden, meine Liebe?«
»Es wird schon gehen. Ich spüre sie kaum noch.«, log Angela und drehte zum Beweis ihren Oberkörper, als würde sie sich strecken. Sofort zuckten Schmerzen ihren Körper, doch sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Siehst du. Es geht schon wieder.«
Die Köchin sah sie zweifelnd an, goss ihr aber ohne weitere Fragen Suppe ein und gab ihr Brot. Angela setzte sich wieder an die Wand und versuchte über die Menge an traurigen Gesichtern hinweg zu blicken. Doch sie konnte nirgends den Jungen entdecken. Wahrscheinlich lag er in einer der Baracken und ruhte sich aus, damit er morgen wieder auf dem Feld stehen konnte. Nicht mehr lange und er wird gar nicht mehr aufstehen, dachte Angela und nahm einen weiteren Löffel Suppe.

Das Treffen

Nach dem Essen zog sie sich wieder als Erste zurück und kroch unter ihre Decke. Sie spürte, wie Müdigkeit sie umfing, doch sie zwang sich wach zu bleiben. Wenn sie jetzt einschlafen würde, könnte alles verloren sein, wofür sie diese Qualen auf sich genommen hatte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie an die Decke und versuchte sich die vielen Unregelmäßigkeiten einzuprägen, während nach und nach die anderen in ihre Betten krochen.
Wieder wartete Angela, bis alles ruhig war, dann nahm sie den gleichen Weg, wie in der vorherigen Nacht. Ihre Augen spähten zu dem Herrenhaus hinüber und sahen das winzige flackernde Licht am Fenster stehen. Sie fand ihr Lächeln wieder. Na endlich. Auf leisen Sohlen schlich sie unter das Fenster und blickte nach links und rechts. Aus Richtung des Platzes konnte sie das betrunkene Lachen der Wachen hören. Heute läuft niemand mehr Wache.
Das Klettern stellte sich heute als ungemein schwierig heraus. Bei jeder Bewegung liefen ihr entlang der Striemen Schmerzen über den Rücken und ihre Müdigkeit tat das Übrige. Quälend langsam erklomm Angela die Wand und mehr als einmal wäre sie beinahe an Stellen abgerutscht, die sie gestern noch mit Leichtigkeit gemeistert hatte. Sie wusste im Nachhinein nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, doch irgendwann schob sie sich durchs geöffnete Fenster ins Innere und blieb eine Zeit lang sitzen, bis ihr Atem sich beruhigt hatte. Wie schon von draußen zu sehen war, lag das Nebenzimmer in Dunkelheit gehüllt, doch sie hörte, wie ungeduldige Schritte durch den Raum streiften.
Sie richtete sich, so gut sie eben konnte, dann klopfte sie an die Tür zum Schlafgemach. Sofort verharrten die Schritte.
»Herein.«, es war eine schwerfällige Stimme und man merkte ihr den Versuch an, einen nervösen Unterton zu unterdrücken, was ihr eindeutig nicht gelang. Ebenso eindeutig war, dass sie einem Mann gehörte. Entschlossen drehte sie den Knauf und trat ins Zimmer ein.

Der Mann, der ihr gegenüber stand hatte noch gewaltigere Ausmaße, als es letzte Nacht den Anschein gehabt hatte. Seine Silhouette verdeckte fast die riesigen Fenster, vor denen er stand. Sobald Angela die Tür geöffnet hatte, hatte er sich hektisch bemüht die Öllampe auf der Anrichte zu entzünden. Es dauerte eine ganze Weile, denn die Zündhölzer, die er verwendete erlöschen bei seinen abgehackten Bewegungen immer sofort. Angela wartete geduldig bis es dem Herren des Hauses gelungen war, dann tat sie einen festen Schritt in den Raum hinein, um sich ins Licht der Lampe zu stellen.
»Guten Abend. Mein Name ist Angela.«, sagte sie, ohne auch nur abzuwarten, ob er sich zuerst vorstellen wollte. Schließlich diente sie einem der mächtigsten Männer ganz Lokras und demnach stand es ihr zu das Wort zu ergreifen. Der Bauer schien über ihre forsche Art ein wenig überrascht, stand es doch im augenscheinlichen Gegensatz zu ihrer restlichen Aufmachung. Angela, die diesen Fakt auch gerade bemerkte, setzte nach.
»Entschuldigt meine Erscheinung, doch bestimmte Umstände bestimmen, dass unser Treffen heimlich geschehen muss. Ich versichere Euch, dass mein Herr es begrüßt hätte, Euch persönlich zu treffen.«, sie verlieh ihrer Stimme absichtlich einen möglichst kriecherischen Unterton. Endlich fand auch der Bauer seine Stimme wieder.
»Und wer ist dein Herr?«, sagte Bauer Troy. Die Stimme mochte so gar nicht zu seinem runden, fast schon kindlich anmutendem Gesicht passen. Sie war viel zu tief und kratzig.
»Das werde ich Euch gerne sagen, sobald Ihr Euch den Vorschlag meines Herren angehört habt.«, sie hoffte, dass er darauf einging oder zumindest nicht gleich die Waffen rief. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass er ihre Einladung zum Anlass einer Falle nahm, um des Eindringlings habhaft zu werden.
»Und warum sollte ich das tun?«, sagte er und Speichel flog mehrere Meter in den Raum hinein. Angela hörte den Argwohn, doch auch die Neugier. Es war ein gutes Zeichen. Wenn er zu schnell zu viel Interesse gezeigt hätte, wäre sie misstrauisch geworden. So aber schien ihr seine Reaktion verständlich.
»Wenn ihr es nicht tut, dann verliert ihr binnen eines Jahres Euren Hof und Eure Stellung. Ihr wisst das genauso gut wie ich und mein Herr weiß es auch. Was mein Herr Euch bieten kann, ist nicht weniger als Eure Existenz und Sicherheit.« Es war ziemlich riskant, so vorzupreschen und sie sah, dass sie einen Nerv getroffen hatte.
»In einem Jahr kann viel passieren und die Ernte ist gut.«, sagte er nur , doch sein Blick sprach Bände. Er wollte sie testen, wollte wissen, wie viel sie wusste.
»Das mag stimmen. Doch es fehlen Euch Freunde. Die anderen Bauern kreisen schon um Euch, wie die Geier und sie werden Euch niederstrecken, sobald Ihr die geringste Schwäche zeigt. Und wie Ihr so treffend meintet. In einem Jahr kann viel passieren. Diese Ernte mag ertragreich sein, aber was ist mit der Nächsten und der danach? Was wenn sie ganz ausfällt? Was wenn sie vertrocknet? Was wenn sie verbrennt?«
»Drohst du mir etwa?«, eine Ader trat an der Schläfe des Bauern Troy hervor und er musste sich sichtbar anstrengen, um seine Beherrschung nicht zu verlieren.
»Das würde mir nie einfallen. Ich zähle nur die Möglichkeiten auf, die die anderen in Betracht ziehen könnten. Mein Herr will sie davor bewahren. Er will sie wachsen sehen. Will sie in Positionen bringen, aus der sie sich eigenständig erwehren können.«
»Und was will er dafür haben?« Angela lächelte in sich hinein, wagte es jedoch nicht, es offen auf dem Gesicht zu tragen. Er bewegte sich genau dorthin, wo sie ihn haben wollte.
»Einen Gefallen. Nichts was Euch etwas kosten würde. Im Gegenteil ihr werdet dafür entlohnt werden.«
»Und was genau?«
»Das werdet ihr erfahren, wenn ihr zustimmt. Ihr solltet nur wissen, dass, wenn es herauskommt, Ihr genauso hängen werdet, wie mein Herr.«, Angela konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Seine Augen huschten unruhig hin und her, als der dicke Mann in seinem Kopf das Für und Wider abwog. Schließlich seufzte er und lies sich auf einen Stuhl sinken, der unter seinem Gewicht zu ächzen begann.
»Also gut, was will Euer Herr?«
Angela lächelte, zog sich ebenfalls einen Stuhl heran und setzte sich ihm gegenüber.

 

Es war später Abend, als Angela in dem gemütlichen Kaminzimmer stand und erwartungsvoll vor dem Schreibtisch ihres Herren stand.
»Nun Angela, das hat länger gedauert, als ich gehofft hatte.«
»Bitte verzeiht mein Herr, es wird nicht wieder vorkommen.«, sie hatte ihren Auftrag erfüllt, dennoch wusste sie, dass sie Mister Brandel enttäuscht hatte. Sie biss sich auf die Lippe. Noch immer schmerzten ihre Wunden, auch wenn sie inzwischen einen neuen, hochwertigen Verband bekommen hatte, der sich unter der sauberen Uniform fast schon an ihren Körper schmiegte.
»Ich weiß, dass es nicht wieder vorkommen wird. Und was soll ich mich beschweren? Du hast erledigt, worum ich dich gebeten habe. Dank dir, hat sich das größte Hindernis meiner neuen Unternehmung erledigt.«
»Danke, mein Herr. Das ist zu viel der Ehre.«, sie errötete und verbeugte sich tief. Dann richtete sie sich wieder auf. »Gibt es noch etwas, was ich für Euch tun kann?«
Mister Brandel lächelte freundlich.
»Eine Sache gäbe es dort tatsächlich Angela. Ich brauche jemand, der vor Ort kontrolliert, dass Bauer Troy seinen Teil der Vereinbarung erfüllt, und er kennt dich schon. Ich wünsche, dass du zu ihm gehst und an seinem Hof verweilst und ihn kontrollierst. Wirst du das für mich tun?«
»Natürlich werde ich das. Ich lebe, um Euch zu dienen. Soll ich wieder als Arbeiter an den Hof zurück kehren?«
»Nein. Du musst dich frei bewegen können. Ich denke du solltest einen der Angestellten ersetzten. Bekommst du das hin?«
»Selbstverständlich. Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet, ich werde mich auf meine neue Aufgabe vorbereiten.«
Mister Brandel nickte und entließ sie. Angela verbeugte sich noch einmal, dann drehte sie sich um, damit ihr Herr das Lächeln auf ihren Lippen nicht sah. Einen Angestellten zu ersetzen ist genau das Richtige. Und ich weiß auch schon genau welchen.