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Vorbereitung

Kurt saß auf dem kalten Boden, die Augen geschlossen. Noch zwei Tage, dachte er.
Komm doch mit, hatte ihm Pat am morgen noch zugerufen, als sie geschlossen nach draußen gegangen waren, um sich die Trainingskämpfe anzuschauen. Tanja hatte sich sogar breitschlagen lassen, Pick mitzunehmen. Kurt hatte abgelehnt. Die Ruhe ihres leeren Quartiers konnte er gut gebrauchen.
Sein Gesicht verzog sich zu einer angestrengten Grimasse, während er versuchte das Jucken zu ignorieren und sich zu entspannen. Nach wenigen Sekunden brach er schnaufend ab.
Am Anfang hatte er noch die Sekunden gezählt und es als Sieg verbucht, wenn er es länger schaffte als beim vorherigen Versuch, doch mittlerweile sah er ein, dass es nichts brachte.
“Ich schaff es einfach nicht.” Er nahm einen großen Schluck Wasser und dachte über seine Möglichkeiten nach. Die letzte Woche hatte er es noch einmal mit physischem Training versucht und einmal war er sogar mit Pat im Ring gewesen. Sie waren nicht im öffentlichen Ring gewesen, sondern hatten sich in ihren Trainingsraum zurückgezogen, wobei er feststellen musste, dass Pat mittlerweile ziemlich gut geworden war, auch wenn er noch nicht ganz verstand, gut genug zu zielen, um ihm mit dem Feuer wirklich gefährlich zu werden. Vielleicht wollte er es auch gar nicht.
Von Sam hielt er sich fern. Kurt hatte das Gefühl, dass er beim nächsten Mal nicht so glimpflich davonkommen würde.
“Das hättest du sehen müssen.” Die Tür flog auf und Pick kam hereingerannt.
“Ja?”, fragte Kurt. “Ist wer gestorben?”
“Nein.” Der Junge blickte ihn erstaunt an. “Warum sollte jemand sterben?”
“Weiß nicht. Was ist passiert?”
“Die haben sich die Köpfe eingehauen. Blut ist mir bis vor die Füße gespritzt.”
“Und warum bist du davon so begeistert?”
“Weil, nun, es war so… so… echt”, schloss er seinen Satz und man konnte sehen, dass er nicht recht zufrieden mit der Feststellung war.
“Und das ist gut?”
“Ja.” Seine Stimme wurde vorsichtiger, vielleicht auch nur langsamer, als würde er ernsthaft darüber nachdenken.
“Was wäre, wenn es deine Mutter gewesen wäre oder Pat oder ich. Wäre es dann immer noch so echt gewesen?” Pick blickte ihn forschend an.
“Ich glaube schon. Aber nicht gleich.”
“Besser?”
“Nein.” Kurt musste lächeln. Es war ganz normal, dass es einen Jungen faszinierte.
“Warum nicht? Wäre es nicht das Gleiche?”
“Aber ich will nicht, dass euch etwas passiert.”
“Und was wäre mit Mr. Bogat oder Sam?”, fragte Kurt. Pick zuckte mit den Schultern.
“Das wäre in Ordnung.” Beide mussten lachen.
“Verstehe. Es ist auch in Ordnung, dass du das faszinierend findest, aber merke dir, dass es nicht nur Leute treffen kann, die dir egal sind, sondern auch diejenigen, die dir wichtig sind.” Pick senkte seinen Blick zu Boden und setzte verlagerte sein Gewicht unruhig von einen Fuß auf den anderen. “Verstehst du das?”
“Ich denke schon.”
“Gut. Wo sind deine Mutter und die anderen?”
“Die sind noch draußen und schauen sich den nächsten Kampf an. Mama hat gesagt, dass ich dich holen soll, aber ich wollte dir erst einmal erzählen, was ich gesehen habe.” Kurt erhob sich und klopfte sich den Staub von der Hose. “In Ordnung. Wir sollten Tanja nicht warten lassen.” Pick lief vor, was gar nicht nötig war. Tanja und die anderen standen am Rande der Menge und waren gut zu erkennen.
“Was hältst du davon?”, begrüßte ihn Tanja und ihr Kopf zuckte in Richtung der Kämpfenden. Kurt musste sich ein wenig verrenken, um sie sehen zu können, denn noch immer war der Andrang zu groß, als dass man einen freien Blick genießen konnte.
“Was soll ich wozu meinen?”, fragte er, während er einer Frau und einem Mann dabei zusah, wie sie sich gegenseitig die Zähne ausschlugen. Gustaph stand am Rand des Raumes und schüttelte nur resigniert den Kopf.
“Siehst du es nicht?”, fragte sie, als ob es das Offensichtlichste auf der Welt war. Ratlos blickte er in die Arena.
“Nicht schlecht”, pfiff er aus. Jeder der Beiden trug einen Ring am Finger, doch keiner von ihnen machte Anstalten, ihn auch zu benutzen. Er beugte sich zu Tanja vor und flüsterte es ihr ins Ohr. Sie nickte nur. Dann bedeutete sie ihm und Pick, ihr ins Wohnzimmer zu folgen. Pat schlurfte hinterher, während Sam und Mr. Bogat zurückblieben. Sie schienen nicht einmal Kenntnis davon zu nehmen, dass sie sich entfernten.
“Warum benutzen sie keine Magie?”, fragte Tanja.
“Weil sie es nicht können”, vermutete Kurt. “Immerhin wird es wahrscheinlich nicht so viele geben, die schon einmal Magie benutzt haben, oder?”
“Ich kenne zumindest keinen”, gab Tanja zu. “Aber das Ganze gefällt mir nicht. Vielleicht spielen sie es auch einfach nur.”
“Wie sieht es mit den anderen aus?” Sie schüttelte den Kopf. “Bei keinem Kampf wurde Magie benutzt. Zumindest bei keinem, den ich gesehen habe.”
“Merkwürdig. Ich halte die meisten schlichtweg für nicht schlau genug. Wenn man ihnen ein Spielzeug gibt, dann würden sie es auch benutzen. Vorausgesetzt sie wissen wie. Das könnte ein Vorteil für uns sein.” Ihm wurde leichter ums Herz. Falls ein Großteil der anderen die Ringe noch nicht beherrschte, war er ihnen mit seiner passablen Leistung deutlich voraus.
“Meinst du wirklich?”, fragte Tanja.
“Einige werden es sicher können. Und das sind die, die auch schlau genug sind, es nicht außerhalb ihrer Gruppen zu sagen, oder gar beim Kampf zu zeigen. Doch da wir eh nicht wissen wer es ist, bringt es auch nichts, sich darüber Gedanken zu machen.”
Tanja biss sich auf die Unterlippe. “Ich glaube du hast Recht. Ich mache mir trotzdem Sorgen. Was wenn es doch alle können?” Kurt zuckte mit den Schultern “Das ändert nichts. So oder so, wir müssen trainieren und dafür sorgen, dass wir besser als unsere Gegner sind.”
“Also alles kein Problem.” Sie lachte und sein Herz setzte einen Schlag aus.
“Wie sieht es bei dir aus?”, fragte er schnell, damit sie aufhörte und er sich wieder in den Griff bekam.
“Ich komm klar”, sagte sie mit einem Augenzwinkern. “Langsam habe ich den Kniff raus. Eine Säule bekomme ich schon hin.”.
“Nicht schlecht. Ich hab damals länger gebraucht.”
“Lügner.”
“Nein. Erde liegt mir einfach nicht. Die stoische Ruhe und den standhaften Geist habe ich niemals gehabt.” Zumindest laut meinem Lehrer, dachte Kurt. Er sah das natürlich etwas anders. Vielleicht stimmte es auch. Wenn er zurückblickte, dann war er immer recht leicht abgelenkt worden. An besonders drögen Tagen hatte schon eine Wache gereicht, die im Halbdunkel durch die Straßen geschlendert war, als Kurts Lehrmeister ihm einmal mehr die Vorzüge der Erdmanipulation erklären wollte.
“Wie dem auch sei. Ich mach mich mal wieder an die Arbeit. So viel Zeit bleibt uns ja nicht mehr. Das gleiche gilt für dich, wie auch immer du dich vorbereitest.”
“Machst du dir Sorgen um mich?“ Er lächelte sie an. Eine verhaltene Röte stieg ihr ins Gesicht.
“Natürlich mach ich mir Sorgen um dich. Du bist der einzige Grund, warum sich Sam und Mr. Bogat einigermaßen benehmen.”
“Ich?”
“Wer sonst? Pat und ich werden es wohl kaum sein. Ich hab Angst vor dem Einfluss, den sie auf Pick haben könnten.”
Ein Lächeln legte sich auf Kurts Lippen. “Ich glaube da musst du keine Angst vor haben.”
“Wieso nicht?”
“Glaub mir einfach. Er ist ein guter Junge. Kommt ganz nach dir.” Sie wurde noch röter. “Halt die Klappe”, sagte sie, doch auch ihren Mund zierte ein Lächeln.
“Können wir jetzt trainieren gehen?”, fragte eine genervt klingende Kinderstimme in die Anspannung hinein.
Es war Pick. Kurt und Tanja hatten für einen Moment ganz vergessen, dass er noch da war. Schuldbewusst kratze sie sich am Kopf.
“Natürlich. Komm mit.” Im Gehen drehte sich Pick noch einmal um und streckte ihm die Zunge raus. Pat schüttelte nur den Kopf und versuchte sich ein Lachen zu verkneifen.
“Verdammter Bengel”, flüsterte Kurt und musste ebenfalls Lachen.
Er genehmigte sich noch einen Humpen Wasser und etwas Brot, dann machte auch er sich wieder auf den Weg zu seinem Training. Sie hat Recht. Wenn Bogat und Sam eine Gelegenheit wittern, werden sie sie nutzen. Er setzte sich auf den Boden und schloss die Augen. Sein Atem wurde gleichmäßiger, doch schon nach einigen Minuten kam das Jucken wieder. Diesmal war es seine Nasenspitze, zuerst nur leicht, doch dann immer prägnanter.
Er hielt es nichtmehr aus. Zwei kleine Bewegungen mit der Hand und der Trieb war befriedigt. Und die Konzentration war weg.
“Also wieder von Vorne.” Er hielt länger durch, doch immer wieder musste er sich dem Jucken beugen. Bin ich wirklich so schwach? Er zermarterte sich den Kopf, ob es einen anderen Weg gab, das Jucken zu vermeiden.
Ziellos wanderte sein Blick im kargen Raum umher, als er ein Stück Holz sah. Es war länglich und klein. Vor wenigen Tagen war es aus einem der Betten gebrochen und lag jetzt achtlos in einer der Ecken.
Vielleicht kann ich es zu meinem Vorteil nutzen, dachte Kurt.
Er legte es direkt vor sich und schloss seine Augen wieder.
Wie erwartet setzte das Jucken ein. Doch anstatt sich seiner Hände zu bedienen, leitete er seine Konzentration um, auf den Ring. Er konnte spüren, wie das Stück Holz den Boden verließ und auf seinen Kopf zu flog. Langsamer, dachte er und es wurde langsamer. Er musste aufpassen. Es näherte sich seiner Nase. Nur noch ein Stück und dann…
“Aua.” Er hielt sich seine Nase und spürte, wie Blut seine Hand benetzte. Trotzdem lächelte er. Fast hatte es geklappt. Noch einmal. Er wartete, bis seine Nase nicht mehr blutete, dann nahm er wieder seine Position ein.
In einer Hinsicht machte er hier schon Fortschritte. Es tat beim zweiten Mal nicht mehr so sehr weh.
Dafür blutete jetzt die andere Seite der Nase. Er brach die spitze Seite des Holzes ab und versuchte das Stück am Boden glatt zu reiben.
“Das ich nicht schon vorher darauf gekommen bin”, sagte er. Seine Bemühungen brachten wenig, doch zumindest konnte es ihn jetzt nichtmehr aufspießen. Relativ zufrieden und mit zwei kleinen Einstichen in der Nase setzte er seine Bemühungen fort. Im Laufe des Tages wurde er immer besser und gerade als die anderen zur Tür hineinkamen, hatte er es geschafft und seine Nase gekratzt, ohne eine weitere Wunde zu erzeugen. Dafür hatte er sich die anderen wieder aufgekratzt.
“Was hast du denn gemacht?”, fragte Pick belustigt.
“Trainiert”, sagte er zwinkernd.
“Mit der Nase auf den Boden zu schlagen?”, fragte Pat und reichte ihm ein nicht gänzlich verschmutztes Leinentuch und eine Schüssel Wasser. Kurt nickte dankbar und begann das Tuch auszuwaschen.
“Nein. Meine Konzentration zu stärken. Ich mache Fortschritte.”
“Das freut mich.” Tanja setzte sich zu ihnen. “Hast du Mr. Bogat und Sam gesehen?”
“Nein. Sind sie schon wieder weg?”
“Sieht so aus.”
“Merkwürdig. Aber andererseits. Was ist an den Beiden schon normal? Wahrscheinlich versuchen sie die anderen zu erpressen oder so. Du gehörst doch eigentlich auch zu seiner Bande, oder Pat?”
“Mir sagen sie nichts mehr. Bin eigentlich auch ganz froh drum”, gab er zu und nahm Kurt den Lappen wieder ab, nachdem dieser sich seine Wunden gereinigt hatte.
“Warten wir bis nach dem Kampf ab. Vielleicht lüftet sich das Geheimnis von ganz alleine”, schlug Kurt vor. Die anderen nickten. Ganz besonders verschwörerisch Pick. Er freute sich, nicht von den Erwachsenen ausgeschlossen zu werden.
Sie saßen noch eine Weile auf dem kalten Boden, dann gingen sie zum Essen ins Wohnzimmer. Es gab wieder einmal Suppe, doch noch hatte keiner von ihnen die entbehrungsreiche Zeit im äußeren Ring vergessen.
Kurt hatte beschlossen am letzten Tag vor dem Kampf nicht noch einmal zu trainieren, also übte er nach dem Essen noch einmal mit den Gewichten. Nachdem er sie mit purer Muskelkraft gestemmt hatte, hob er sie eine weitere Stunde nur mit Hilfe des Ringes. Es ging ihm überraschend leicht von der Hand. Vielleicht bin ich doch nicht so eingerostet, dachte er.
Den nächsten Tag verbrachte er weitestgehend beim Kampfgetümmel der anderen Gruppen. Tanja teilte seine Auffassung nicht. Sie und Pat wollten den ganzen Tag über trainieren, um sich möglichst gut vorzubereiten. Selbst so kurz vor dem ersten Kampf tummelte sich hier noch eine Menge an Menschen, doch scheinbar nahm keiner von ihnen die Auseinandersetzungen sonderlich ernst.
Kurt fiel auf, dass es fast nur noch Männer waren, die sich lachend aufeinander stürzten, um sich gegenseitig auf die Bretter zu schicken, nur um dann wieder aufzuspringen und es gleich noch einmal zu versuchen. Keiner von ihnen benutzte Magie und die meisten machten sich nicht einmal die Mühe, ihre Ringe zu tragen. Die größte Verletzungen an diesem Tag waren Schrammen und Prellungen, für die Gustaph nicht einmal aufstand.
“Tabak?”, fragte Kurt.
“Du und deine Sucht”, sagte er kopfschüttelnd und nahm einen Schluck aus seinem Flachmann. Kurt lachte und lehnte seinen Hinterkopf gegen die kalte Steinwand.
“Bist du aufgeregt?”
“Nein”, log er.
“Solltest du aber. Keiner weiß so richtig, was morgen passieren wird. Der Alte hüllt sich in Schweigen.”
“Wer ist der Alte? Tuck Brandel?”
“Nein. Piérre. Aber selbiges gilt für Herrn Brandel. Ist ja auch egal. Mir sagt sowieso niemand etwas.”
“Kannst du es ihnen verübeln? Bist nicht gerade ein Sinnbild an Hingebung.”
“Wärst du es, wenn du jeden Tag diese Raufbolde zusammenflicken müsstest?” Es wies mir einer fahrigen Handbewegung auf die zwei Männer, die sich gerade im Ring befanden.
“Verstehe.” Kurt hatte seine Pfeife gestopft und entzündete sie. Mittlerweile war es ihm egal, wenn Leute ihn dabei sahen. Sollten sie ihn doch für einen Süchtigen halten. Das würde es ihm leichter machen.
Ein Gong ertönte.
“Wenn man vom Teufel spricht”, sagte Gustaph und wies auf die kleine Bühne, auf welcher schon an ihrem zweiten Tag Piérre gestanden hatte, um ihnen ihr neues Schicksal zu offenbaren. Nun stand er wieder dort, begleitet von zwei Frauen, die alles andere als freundlich dreinblickten.
“Wenn ich einmal um ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte”, sagte der oberste Diener mit freundlicher, aber bestimmter Stimme. Er wartete geduldig, bis sich alle zu ihm umgewandt hatten. Ein paar Türen öffneten sich und neugierige Blicke wurden auf den Mann in sauberer Uniform geworfen.
“Morgen ist es so weit. Die ersten Kämpfe werden stattfinden. Bitte begebt euch alle in eure Räumlichkeiten. Ihr werdet heute Nacht eingeschlossen. Wir beginnen in zehn Minuten mit der Zählung.”
“Das ist nicht gut”, kommentierte Gustaph leise.
“Wieso?”
“Warum sollten sie euch einschließen? Es ist noch etwas anderes passiert.” Kurt fragte nicht weiter. Gustaph wusste entweder nicht mehr, oder er wollte nicht mehr sagen. So oder so wollte er diesen Kontakt nicht verspielen.
Die Menge regte sich nicht. Auf dem ein oder anderem Gesicht schlich sich der Trotz. Keiner wollte noch mehr eingeschränkt werden und auf ihrem Gesicht spiegelten sich ihre Gedanken: Wir sind keine Tiere.
Man konnte es fast hören. Piérre hielt all ihren Blicken gelassen stand.
“Falls ich für ein Missverständnis gesorgt haben sollte, tut es mir leid. Ich meinte selbstverständlich unverzüglich.” Die Worte hallten durch die Halle.
“Aber wir wollen nicht.” Ein großer muskulöser Mann trat vor. Er erinnerte vom Aussehen ein wenig an Mr. Bogat, doch hatte er mehr Tatendrang in den Augen, dafür aber deutlich weniger Intelligenz. “Wir entscheiden selber, wann wir wo hingehen.” Er hielt seinen Ring hoch und grinste selbstgefällig. “Was willst du dagegen tun?” Er bemerkte nicht, wie ein Großteil der Menge langsam von ihm abrückte. Nur ein paar Männer und Frauen blieben zurück, allesamt von ähnlich schlichtem Gemüt, wie Kurt vermutete.
“Was ich dagegen tun will?”, fragte Piérre. Seine Stimme blieb ganz ruhig, doch an seiner Schläfe pulsierte eine feine Ader. Er sah zu einer der Frauen, die prüfend auf ein Blatt Papier sah und dann den Kopf schüttelte. “Ich will es euch zeigen.”
Ohne jegliche Vorwarnung schoss ein steinerner Stachel aus dem Boden und spießte den Aufsässigen auf. Blut tropfte am Stein herab.
Stille.
Dann ein entsetztes Stöhnen.
Ein etwas untersetzter Mann kippte nach hinten um. Der Aufprall hallte von den Wänden wieder. Er blieb reglos liegen, allein sein Brustkorb verriet durch ein sanftes Heben, dass er noch lebte.
Einige andere wichen entsetzt bis an die Wände zurück, als würde sie das vor den Dienern retten.
Auch in Kurt wallte das Entsetzen. Wie durch einen Nebel bekam er mit, wie Gustaph seufzend aufstand und zu dem aufgespießten Körper ging.
“Er ist tot.” Erklang die dumpfe Stimme, doch ohne jeden Vorwurf.
“Lass ihn abnehmen und wegbringen Gustaph.”
“Wie du wünschst.”
Niemand wehrte sich mehr gegen die nächsten Anweisungen des alten Dieners. Das Geräusch des vorgeschobenen Riegels hallte noch stundenlang in Kurts Kopf nach.

Die Auswahl

Die Gänge waren staubig und niedrig. Die Wände schienen immer näher auf sie zuzukommen und die Lampen, am Anfang noch eine alle paar Meter, waren so selten geworden, dass sie zwischenzeitlich in vollkommener Dunkelheit liefen.
Kurt und die anderen Auserwählten trabten im Laufschritt durch die Gänge.
Zuerst hielt er noch Tanjas Hand fest gedrückt, doch bereits nach wenigen Minuten hatten sie sich in dem Durcheinander voneinander gelöst und sie war in der Menge verschwunden. Links und rechts von ihm liefen andere Männer und Frauen. Arme pressten sich in seine Rippen und Beine drohten sich in seinen zu verfangen. Er mochte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn er stolperte und fiel.
“Sputet euch!”, rief eine feste Stimme über den Lärm ihrer Schritte hinweg. “Wir haben nicht den ganzen Tag zeit. Die hohen Damen und Herren von Lokras erwarten euch.” Einige der anderen zwangen sich zu einem kehligen Lachen, doch Kurt hatte nicht das Gefühl, dass ihr Antreiber einen Spaß gemacht hatte.
Sie liefen weiter und immer länger wurden die Abschnitte der Finsternis, während sie um viele Kurven und Kehrtwenden geführt wurden. Die Luft war feucht und es roch modrig, während die Wände immer weiter zusammen zu rücken schienen.
Kurt bekam schon das Gefühl, nie wieder aus diesem unterirdischen Labyrinth zu entkommen, bis die Abstände zwischen den Lampen wieder kleiner wurden. Wie er vermutete dauerte es nun noch einmal genau so lange, bis sie ihr Ziel erreichten.
Der Gang erweiterte sich zu einem Raum. Sie wurden bereits erwartet. Ihr Empfangskomitee bestand aus einer Reihe Frauen und Männer, die reglos in der Mitte standen und ihnen entgegen blickten. Sie trugen alle die Uniformen der Dienerschaft.
Kurt erkannte einige von ihnen. Sie waren bei seiner Ankunft im Anwesen von Tuck Brandel auch vor Ort gewesen und die Uniformen zierten die Zeichen ihrer Herren. Es waren zehn, je zwei von einem Haus. Sie starrten stumm auf die ankommende Menge und verzogen keine Miene. Es war unmöglich zu erraten, was in ihren Köpfen vorging.
“Halt”, brüllte ihr Führer und der Trott kam stockend zum Stehen. Er zog fünf kleine Pergamentrollen aus dem Futter seiner Uniform und reichte sie den einzelnen Parteien, die sie sogleich ausrollten, lasen und dann nickten. Dann drehte sich der hochgewachsene Diener wieder zu ihnen um.
“Die anderen Häuser werden nun ihre Wahl treffen und ihr habt zu gehorchen. Nach der Wahl gehen die Auserwählten mit den Dienern des Hauses und werden weitere Anweisungen erhalten. Habt ihr das verstanden?”, fragte er, doch wartete keine Antwort ab, sondern bedeutete der ersten Delegation zu beginnen.
Sie bestand aus zwei Frauen, die kerzengerade nebeneinander standen und mit Adleraugen das Geschehen überwachten. Sie musterten die Kämpfer mit dem gleichen Interesse, wie man vielleicht ein Stück Fleisch abschätzte und sich fragte, wie viele Mäuler es wohl stopfen mochte.
“Wir nehmen diesen da.” Diejenige, die auch das Pergament entgegen genommen hatte, hob steif ihren Arm und wies auf einen Hünen direkt hinter Kurt, der sich sogleich auf den Weg machte.
Seit Piérres Machtdemonstration, hörte man lieber auf alles, was ihnen befohlen wurde.
Ihr Aufseher nickte und deutete auf die nächste Gruppe, bestehend aus einem Mann – er war klein, dickbäuchig, hatte das Gesicht eines Hamsters, doch sehr intelligente Augen – und einer Frau, die eher danach aussah, als könne sie es selbst kaum erwarten in den Ring zu steigen. Der kleine Mann musterte noch einmal sein Pergament und legte dann die Hände an sein wulstiges Kinn.
“Wir nehmen ihn da”, sagte er mit einer Stimme, als würde man mit Fingernägeln über Schiefertafeln kratzen und wies direkt auf Kurt.
Wie angewurzelt stand er da. Wieso kämpfe ich nicht für Brandel?, dachte er. Es musste ein Fehler sein. Viel zu spät wurde ihm bewusst, dass er die beiden Diener einfach nur mir offenem Mund anstarrte.
“He du. Hör gefälligst auf zu starren und tue, was dir gesagt wird.” Ein Peitsche knallte, doch sie traf nur den blanken Fels vor seinen Füßen.
Es genügte. Mit langsamen und zittrigen Schritten trat er auf die beiden zu. Ihm war bewusst, das sämtliche Augen auf ihm ruhten. Als er sie passiert hatte, eilte ein weiterer Diener herbei und ergriff seinen Arm. “Wenn Ihr mir bitte folgen möget”, sagte er und zog ihn in Richtung einer Tür. Irritiert blickte Kurt sich um, sah aber, dass auch der Hüne bereits verschwunden war. Also ließ er sich mitziehen, nachdem er vergeblich nach Tanja in der Menge gesucht hatte.
Wieder ging es durch einen langen, kurvenreichen Gang, jedoch nicht annähernd so lange, wie zuvor. Es ging in die Tiefe und Kurt hatte die ganze Zeit über das Gefühl, als würden sie sich drehen. Dann kamen sie in einen Vorraum, von dem mehrere Türen abzweigten.
“Die ganz linke, wenn ich bitten dürfte”, sagte der Diener und deutete eine Verbeugung an.
“Und was soll ich da?“, fragte Kurt, halb aus Unwissenheit, halb aus kindlichem Trotz. Eine Sekunde lang sah ihn der Diener verwirrt an, dann fing sich sein Gesichtsausdruck wieder in der monotonen Gleichgültigkeit.
“Ihr werdet Euch umziehen und dann darauf warten, dass man Euch in die Arena führt, wenn es Recht ist.” Den letzten Teil sagte er mit einem Nachdruck, der das Gespräch für beendet erklärte und gleichzeitig Übel ankündigte, wenn man sich nicht daran hielt. Gleichzeitig offenbarte er einen Hauch eines fremdartigen Akzents, den Kurt noch nie gehört hatte.
“Schon gut.” Kurt hob die Hände und bewegte sich auf den Raum zu, drehte sich dann jedoch noch einmal um. “Für wen kämpfe ich eigentlich?”
“Für Joran, die Hirtin”, sagte der Diener und wies auf das Wappen auf seiner Brust. Jetzt da er es sagte, erkannte Kurt, dass es sich bei dem Zeichen auch mit viel Fantasie um einen Hirtenstab handeln konnte. Er hatte den Namen noch nie zuvor gehört. Muss wohl nach meinem Fall aufgestiegen sein, dachte er und öffnete die Tür.
Helles Licht strahlte ihm entgegen, sodass er seine Augen zusammenkneifen musste. Trotzdem war er für einige Sekunden blind und erst nachdem sich die Tür hinter ihm wieder geschlossen hatte, gewöhnte er sich an die neuen Umstände.
Er stand in einem kleinen Raum. Links von ihm stand eine, mit rotem Samt überzogene, Bank. Ein Handgriff bestätigte seine Vermutung. Sie war ausgezeichnet gepolstert. Gegenüber davon stand ein Kleiderständer mit seiner, er konnte es nicht anders nennen, Uniform.
Mit einem resignierten Seufzer betrachtete er sie. Sie bestand aus schweren Stiefeln, einer einfachen Hose und Hemd, einem großen braunen Überwurf, der bis zum Boden ging, ihn aber nicht berührte, und einer Maske, die er mit Lederriemen am Hinterkopf befestigen musste.
Sie wollen also nicht, dass wir wissen, gegen wen wir kämpfen. Er zog sich seine, schon halb zerschundenen, Kleidungsstücke aus und die neuen an. Zu seiner Überraschung saßen sie wie angegossen, mit Ausnahme der Maske, die ein wenig an der Nase drückte. Durch die Löcher konnte er einigermaßen sehen, dennoch würde sie ihn ein wenig behindern. Doch das gleiche galt auch für seinen Gegner.
Er nahm sie wieder ab und betrachtete den Rest des Raumes. Er war klein, aber nicht zu beengt. Das grelle Licht kam von gleich vier Lampen an den Wänden. Im Gegensatz zu denen in den Gängen waren diese nicht verrußt oder anderweitig verschmutzt, sondern blank poliert.
Brandel oder wer sonst dafür zuständig ist, hat viel Geld investiert, damit wir es schön haben, dachte Kurt und ein bitteres Lächeln legte sich auf seine Lippen. Tanz Äffchen, tanz.
Bis auf die Bank und die Garderobe gab es nur noch eine weitere Tür, doch die ließ sich nicht öffnen. Und so legte sich Kurt auf das bequeme Möbelstück und starrte an die blanke, von Rissen durchzogene Decke.
Es klopfte und Kurt schrak hoch. Er wusste nicht mehr, wie lange er gewartet hatte, doch es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde sie geöffnet und im Durchgang erschien eine alte Dienerin mit gebückter Haltung.
“Es ist Zeit”, sagte die Frau mit zittriger Stimme und es wunderte Kurt, dass sie überhaupt noch stehen konnte. Kurt setzte sich auf und erschrak. Sie war noch viel älter als er auf den ersten Blick erkannt hatte und er glaubte durch die Haut bereits ihre Knochen sehen zu können.
“Zeit wofür?”, fragte er, bevor sich seine Gedanken noch weiter damit befassen konnten.
“Zu Kämpfen. Kommt. Folgt mir und setzt die Maske auf.”
Kurt zögerte, doch dann stand er auf und tat, wie ihm geheißen war. Die alte Frau ging unglaublich langsam, doch zu seiner Erleichterung war die Strecke auch nicht allzu lang.
“Geht hindurch und wartet, bis Ihr an der Reihe seid.” Sie wies auf die Tür am Ende des Ganges und ging selbst zu einer anderen, kleineren Tür, die direkt daneben lag. Kurt öffnete sie und tat einen Schritt ins Ungewisse.

In der Arena

Lärm brandete ihm entgegen, als er den Gang verließ.
Um ihn herum zogen sich Gitterstäbe in die Höhe. Erst als hinter ihm die Tür mit einem Klicken ins Schloss fiel wusste er, wo er war.
In einem Käfig.
Durch die Lücken zwischen den Gitterstäben konnte er die Arena sehen. Feiner Sand lag auf dem Boden.
Weiter Oben fand er die Quelle des Lärmes. Menschen. Massen von ihnen drängten sich auf Galerien und Balkonen rund um den großen, kreisrunden Bereich.
Links und rechts neben seinem, sah er andere Käfige und in jeden trat nun ebenfalls eine Gestalt hinein.
Die anderen Kämpfer.
Sie trugen alle die gleichen Gewänder, nur die Maske unterschied sich. Kurt konnte nicht alle erkennen, doch er glaubte einen Wolf und einen Hasen zu sehen. Hätte ich doch nur genauer auf meine geschaut, dachte er und widerstand dem Drang, die eigene abzunehmen. Die Menge begrüßte jeden der Neuankömmlinge mit frenetischem Jubel.
Kurt nahm sich einen Moment Zeit, um die Zuschauer genauer zu betrachten. Sie schienen alle sehr reich zu sein, zumindest deutete darauf ihre Kleidung hin und sie fühlten sich anscheinend alle recht sicher, denn sie lachten viel und zeigten offen ihre Gesichter.
Ein paar von ihnen kannte Kurt selbst noch aus seiner Zeit und mit dem ein oder anderen hatte er bestimmt schon einmal die Kelche auf einem Fest gekreuzt. Der gesamte innere Kreis muss hier versammelt sein, schoss es ihm durch den Kopf. Nun gut, wenn Herr Brandel zu einem Fest lädt, lehnt man wohl kaum ab, wenn einem der Ruf etwas bedeutet. Er suchte nach ihm, doch konnte ihn nirgends erblicken. Nur Piérre stand mit unbewegter Miene neben einer aufwendig verziertem Stuhl, der schon beinahe wie ein Thron anmutete.
Die Menge beruhigte sich, als jede der Zellen belegt war. Dann ertönten Trompetenstöße von unsichtbaren Musikanten und die Zuschauer sahen sich neugierig um. Auch der ein oder andere Kämpfer, spähte zu den Galerien und den darüber liegenden Balkonen empor, um die Quelle der Musik zu erspähen.
Der Grund war nicht schwer auszumachen. Ein Mann, mit jugendlichem Gesicht, doch grauen Schläfen ging mit gewichtigen Schritten auf den Stuhl zu, schüttelte dabei einige Hände und nickte wiederum anderen bedeutsam zu.
“Meine hohen Damen und Herren, wenn ich vorstellen darf. Herr Brandel gibt sich die Ehre euch alle zu begrüßen”, sagte Piérre mit ehrfurchtsvoller Stimme. Doch niemandem musste dieser Mann noch vorgestellt werden. Applaus brandete auf und verebbte erst wieder, als sich der Gastgeber selbst die Stimme erhob.
“Danke, meine lieben Freunde”, sagte er. “Vielleicht sind Euch noch nicht alle Gründe bekannt gemacht wurden, warum ich Euch zu einem so seltsam anmutendem Ort geladen habe.” Vereinzeltes, zustimmendes Gemurmel erhob sich unter den Gästen. “Ich möchte euch dieses Geheimnis nun gerne lüften, doch die Meisten von Euch, wenn nicht gar alle wissen, einen der Gründe schon seid einigen Tagen.” Stille legte sich über die Gäste, während sie gebannt auf den Sprecher starrten, der die Erwartung der anderen, allem Anschein nach auskostete.
“Spaß”, sagte er schließlich. “Heute wollen wir uns amüsieren. Ich habe einige Freunde gebeten, mich dabei zu unterstützen und sie waren bereit, ihr Geld zu setzen und einige meiner neuesten Errungenschaften für den Abend zu erwerben.” Dabei deutete er auf die Menschen in den Käfigen und ein Raunen ging durch die Menge, während die Kämpfer sichtbar nervös wurden.
“Naürlich soll dies auch eine geschäftliche Gelegenheit für Euch werden. Wettet Euer Geld und überzeugt Euch von der Qualität der Ware. Im Anschluss an diesen Abend könnt ihr gerne den ein oder anderen Kämpfer erwerben. Ihr fragt euch jetzt sicherlich zurecht, warum ihr das tun solltet, doch die Antwort ist ganz einfach.” Wieder machte Tuck Brandel eine Pause. Die Spannung der Zuhörerschaft war zum Zerbersten gespannt. “Heute in einem Monat wird es beginnen. Das neueste Amüsement des inneren Kreises. Ein exklusiver Klub, in dem Ihr eure tapfersten Recken kämpfen lassen könnt. Ich stelle die Lokalität und biete meine Kämpfer feil und ihr alle könnt teilhaben, wenn ihr es denn möchtet.”
Stille.
Es folgte vereinzelter Applaus, der schnell zu einem wahrhaftigem Donner anschwoll. Begeisterte Rufe hallten durch die Halle und Tuck Brandel nickte zufrieden.
“Doch nun lasst uns erst einmal den Abend genießen. Für die Geschäfte ist später noch Zeit”, sagte er, nachdem sich seine Gäste wieder beruhigt hatten. “Überall in Eurer Nähe befindet sich einer meiner Diener, bei denen ihr Wetten auf die Kämpfe abschließen könnt. Gegen eine kleine Gebühr versteht sich. Doch bevor ihr dies tut, möchte ich Euch meine Unterstützer vorstellen.” Er streckte die Arme zu beiden Seiten auf und fünf, in sehr teure und aufwändige Stoffe gekleidete Gestalten traten hervor. “Zuerst meine liebe Freundin und Herrin über die größten Felder in ganz Lokras. Joran, die Hirtin.” Eine drahtige Dame mit ernstem Gesichtsausdruck und gehüllt in ein grünes Kleid verbeugte sich knapp und stützte sich dann wieder auf einen einfachen Hirtenstab.
“Neben ihr seht ihr Tjorven Bankier”, sagte Brandel und wies auf einen Mann mit Monokel. Kurt erkannte ihn sofort. Er war es gewesen, der das Anwesen seiner Eltern zu einem Spottpreis gekauft hatte und somit eine Kette in Bewegung setzte, die zu seinem Absturz führte.
Seine Fäuste verkrampften sich, während Tuck Brandel die anderen vorstellte, doch Kurt hörte nur noch ein Rauschen, während ihm das Blut ins Gesicht schoss.
Sein Atem wurde schneller und wie von allein richtete sich seine Hand auf den Bankier und die Kräfte strömten aus dem Ring. Sie kamen allerdings nicht sehr weit. Woran auch immer es lag, sie prallten an dem Gitter ab und irrten ziellos im Raum umher, bis sie etwas fanden, woran sie sich entladen konnten. Und dieses etwas war Kurt.
Nicht mehr in der Lage die kinetische Energie zu kontrollieren, packte sie zu und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen die steinerne Wand hinter ihm.
In letzter Sekunde war er so geistesgegenwärtig gewesen und hatte den Kopf auf die Brust gelegt, sonst wäre er mit dem Schädel zuerst gegen den harten Stein geprallt. Trotzdem drehte sich die Welt um ihn, doch niemanden schien es zu interessieren.
Noch immer mit viel Wut im Bauch kam Kurt wieder auf die Beine, doch immerhin war er wieder klar genug, um nicht noch einmal so etwas Dummes zu versuchen. Beruhige dich Kurt. Was bringt es dir? Sei nicht dumm, sagte er sich immer wieder selbst, während Brandel seine Aufmerksamkeit von den Gästen weg und zu der Arena in der Mitte hinlenkte.
“Dort unten werden gleich die tapferen Kriegerinnen und Krieger ihrem Schicksal entgegenblicken und hoffentlich dafür Sorge tragen, dass der ein oder andere von uns das ein oder andere Goldstück mehr mit nach Hause trägt.” Die Menge lachte affektiert und einige blickten interessiert in die Arena hinunter. “Doch zuerst gilt es noch eine andere Sache zu klären.” Seine Stimme war plötzlich todernst geworden. “Es ist, soviel ist jedem von uns klar, fast schon gute Tradition, dass man auch das Opfer von Neid und Hass wird, wenn man einmal eine gewisse Stellung innerhalb der Gesellschaft eingenommen hat und das ehre und schätze ich auch, denn es bedeutet, dass man mich bemerkt.”
Das ist die Untertreibung der letzten hundert Zyklen, dachte Kurt. Zu behaupten man bemerke Tuck Brandel im inneren Kreis war genauso, als würde man sagen, man bemerkt die Sonne an einem heißen Tag im Sommer.
“Doch was ich mir verbitten möchte, ist das man Anschläge auf mein Leben verübt, wie es vor gar nicht allzu langer Zeit anscheinend Sitte geworden ist. Wenn ich Ihre wertgeschätzte Aufmerksamkeit nun einmal auf die letzte Attentäterin richten dürfte.” Ein Klirren ertönte, als irgendwo rechts von Kurt eine der eisernen Türen geöffnet wurde und durch die Gitterstäbe sah er, wie eine Frau in die Arena stolperte. Sie sah geschunden aus, als ob man sie seit Wochen gefoltert hatte, was wahrscheinlich gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt lag, wie Kurt klar wurde.
“Diese Person hat sich erdreistet, mir nach dem Leben zu trachten und ist gescheitert, wie alle vor ihr und alle nach ihr damit gescheitert sind und scheitern werden. Doch wer immer sie geschickt hat, kann beruhigt sein. Sie wollte ihren Herren unter keinen Umständen verraten und wir haben wirklich vieles versucht, um sie doch noch zum Umdenken zu bewegen.” Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, knickte die Frau an den Fußgelenken um, fiel auf den Boden und blieb liegen. Ihr Brustkorb hob sich nur schwach. Kurt konnte Blut und Schweiß riechen.
“Ich werde dies nur einmal aussprechen. Jedes weitere Trachten nach meinem Leben werden geahndet und jeder weitere Attentäter, der nach mir gesandt wird, stirbt einen sehr schmerzhaften Tod. In diesem Augenblick, ergeht die Meldung, überbracht durch meine Dienerschaft, an sämtliche Häuser des inneren Kreises und des Militärs. Jeder wird wissen, was es kostet, mich und mein Haus zum Feind zu haben.” Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es nun.
Verunsichert blickten sie die hohen Damen und Herren auf der Galerie an, in der Hoffnung im jeweils anderen ein Zeichen zu sehen, dass es sich um einen Spaß handelte, doch niemand lachte oder brachte gar ein Lächeln zustande. Sie wussten, wie ernst es Tuck Brandel war.
Plötzlich klatschte er in die Hände und fuhr mit deutlich freundlicherer Stimme fort.
“Aber lasst uns jetzt nicht mehr davon reden. Wir sind hier zusammengekommen, um zu feiern und ein Geschäft zu beschließen.” Er klatschte erneut in die Hände und Piérre trat vor, richtete seine beringte Hand auf die Frau und mehre Stacheln durchbohrten ihren Körper. Die Menge keuchte, als der Körper blutüberströmt zu Boden sank, als sich die Stacheln wieder aus ihrem Körper entfernten und auch durch die Gitterstäbe drang verängstigtes Flüstern der anderen Kämpfer an Kurts Ohren.
Diener schritten in die Arena und schafften die Leiche weg.
Das Blut blieb.
“Jetzt kann es endlich beginnen. Freiwillige vor.” Erwartungsvoll sah sich Tuck Brandel um. Die Hirtin hob ihren Stock an und ließ ihn auf den Boden stampfen.
“Ah. Danke Joran, meine Liebe”, sagte er und blickte auffordernd auf die anderen. Ein Mann, offenbar ein hoher Militär, denn er war in Uniform gekleidet, salutierte.
“Andro, ihr eilt Eurem Ruf voraus.” Zum Dank salutierte der Mann noch einmal.
“Welche Kämpfer sollen es sein?”, fragte Tuck Brandel. Neben ihren Herren erschienen nun die Diener, die Kurts Gruppe in den Katakomben begrüßt hatten und reichten ihnen die Rollen Pergament.
Es dauerte nur kurz, dann tippte die Hirtin auf ihres, ebenso wie der Militär auf das seine und die Diener rollten sie wieder ein und richteten sich an Piérre, der sich dann wiederum an seinen Herren wandte. Tuck Brandel nickte kurz, dann trat Piérre auf die Arena zu.
“Es mögen sich diejenigen in die Arena begeben dessen Tore sich nun öffnen. Wenn das Signal ertönt, werdet ihr kämpfen, bis einer von euch noch steht oder mein Herr den Kampf unterbricht. Solltet ihr dem zuwider handeln, wird man euch töten.” Er sagte dies ohne die geringste Regung in der Stimme. Kurt lief ein Schauer über den Rücken.
Und dann geschah das, womit er fast gerechnet hatte. Wie in Zeitlupe begann sich sein Gitter langsam nach oben zu schieben und erst jetzt sah er die dicken Seile, an denen es hing.

Der Kampf

Vor ihm lag die Arena, auf dessen Boden bereits das Blut zu trocknen begann. An vier Punkten am Rand waren riesige Feuerbecken aufgestellt worden und in der Mitte befand sich ein Becken mit Wasser. Nichts mit dem ich arbeiten kann, dachte Kurt und biss sich auf die Lippe.
Das Rattern eines zweiten Gitters ertönte und Kurt blickte sich um.
Eine zweite Gestalt, im gleichen Aufzug wie er selbst, betrat den Platz. Seine Maske zeigte das stilisierte Antlitz eines Bären. Gut gewählt, dachte er, denn sein Gegner war ein Berg von einem Menschen, was die Auswahl, wer unter der Maske steckte sichtlich einschränkte.
Doch es war ihm egal, denn es war nicht Tanja. Also konnte er sich genauso gut auf einen Sieg konzentrieren. Noch immer klirrte sein Kopf leicht nach, als er seinen Gegner taxiere. Dieser schien ebenfalls die Situation zu beurteilen und trotz seiner Größe und der dazu gehörenden Schwere, bewegte er sich leichtfüßig über den Boden. Kein leichter Gegner. Wenn er allzu nachlässig war, würde sein Gegner ihn bewusstlos schlagen. Oder schlimmeres.
Sie stellten sich nach Piérres Anweisungen an gegenüber liegenden Enden auf.
“Sobald ich dem Befehl gebe, kämpft ihr. Alles ist erlaubt.” Durch die schmalen Löcher konnte Kurt zwei stecknadelgroße Augen bei seinem Gegenüber erkennen, die ihn genau ins Ziel fassten.
Sein Gegner würde keine Sekunde zögern, also durfte er das auch nicht.
“Los.”
Die Fuße der beiden Kontrahenten stießen sich gleichzeitig vom Boden ab. Anscheinend wollte auch Kurts Gegner erst einmal abschätzen, wie stark sein Gegner war, bevor er auf Magie zurückgriff. Es konnte ein Vorteil, aber auch genauso ein Nachteil sein, wenn man sie früh benutzte. Das wusste Kurt. Doch sein Gegner wusste es auch.
Kurts Faust traf ihr Ziel, doch glitt an den, unter der Kleidung liegenden, Muskeln ab, die zum Zerreißen gespannt waren. Gleichzeitig trat sein Gegner nach ihm und fegte Kurt von den Beinen.
Er landete ungebremst auf dem Boden und noch bevor sämtliche Luft aus seinen Lungen gepresst wurde, sah er schon eine Faust auf sich zurasen. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich zur Seite zu rollen und seinem Gegner dorthin zu treten, wo keine Muskeln waren.
Ein erstickter Laut war die Folge, doch der Hüne wankte nicht einmal. Verdammt, dachte Kurt, das wird anstrengender als erwartet. Die haben wirklich ganze Arbeit bei der Auswahl getroffen.
Er sprang einen Schritt zurück, bevor ihn ein Tritt erneut zu Boden befördert hätte. Mit rein körperlicher Kraft würde er es nicht schaffen. Sein Gegner rannte auf ihn zu.
Jetzt oder nie, dachte er und konzentrierte sich. In dem Moment, in dem sein Gegner zu einem Schlag ausholte, schickte Kurt die Energie durch den Ring ins freie und direkt auf das Bein des Gegners. Gleichzeitig griff er nach dem Schlagarm, um den Hünen über seine Schulter zu werfen.
Doch die magische Energie bekam das Bein nicht zu fassen. Sie prallte auch nicht einfach daran ab, sondern verstreute sich in alle Richtungen. Verdammt, dachte Kurt noch, dann traf ihn der Schlag gegen sein ausgestrecktes Handgelenk. Schmerz durchzuckte seinen rechten Arm, als er sich unter dem nächsten Hinwegduckte und um seinen Gegner herumtänzelte. Tränen stiegen ihm in die Augen und Gefühl der Taubheit machte sich im Handgelenk breit. Gebrochen, dachte er und biss die Zähne zusammen.
Aufgeben kam nicht in Frage.
“Ist das alles?”, verhöhnte ihn sein Gegner. Es war eine harte Stimme, die eines Mannes, der mit seinem Leben abgeschlossen und der schon alles gesehen hatte.
“Ich fange gerade erst an.” Kurt presste diese Worte zwischen den Zähne hervor, was sie einiges an Glaubwürdigkeit einbüßen lies. Die Mengel jubelte ihnen zu. Ihr Favorit war klar.
Kurts Gegner lachte kehlig, dann sprang er wieder auf ihn zu, die Hände über dem Kopf ineinander verschränkt. Kurt sprang zur Seite und stieß beinahe gegen eines der Feuerbecken.
Holz, dachte er. Sie hatten einfache Holzscheite entzündet. Das war seine Rettung. Er hatte nicht damit gerechnet. Seine Lehrer hatten immer Öl genommen und im Trainingsraum, waren die Becken mit kleinen Kohlestücken gefüllt, zu klein, um sie wirklich nützlich manipulieren zu können.
Er sprang an der Schale vorbei und brachte sie zwischen sich und den Hünen.
“Versteckst dich wohl gerne, was?”
“Ich dachte, ich stelle einfach ein wenig Waffengleichheit her.”
“Die seh’ ich hier nicht.”
“Dann musst du genauer hinsehen.” Der Hüne zögerte. Etwas an Kurts Aussagen schien ihn vorsichtig zu machen. Doch das war egal. Kurt hatte ihn genau dort, wo er ihn haben wollte. Er entsandte die Energien in die Schale und mit einem gewaltigen Funkenflug, löste sich einer der Scheite und flog brennend auf seinen Gegner zu.
Dieser versuchte noch auszuweichen und warf sich nach hinten. Doch Kurt hatte nicht auf sein Gesicht gezielt.
Der brennende Scheit verwickelte sich in den weiten Überwurf. Er brannte erstaunlich gut. Der Stoff schien die Flammen nur so aufzusaugen. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann zog sich ein rotes Adernetz auf Glut durch den Stoff und Rauch stieg seinem Träger ins Gesicht.
Der Hüne versuchte vergeblich die aufkeimenden Flammen zu ersticken und es war dieser Moment, den Kurt für seine Angriff nutzte. Er überwand die kurze Distanz in wenigen Schritten. Schmerz stieg in ihm empor, doch er kämpfte ihn wieder hinunter. Dafür war jetzt keine Zeit.
Er sprang an seinem Gegner vorbei und bekam dabei mit seiner Linken das Kinn zu greifen und zog es nach hinten. Sofort verlor der Hüne, der langsam in Panik geriet, als die Flammen größer wurden, das Gleichgewicht und kippte nach hinten.
Ein Raunen ging durch die Menge, als Kurt sich auf den liegenden Mann stürzte, der immer noch versuchte, sie die Flammen vom Gewand zu klopfen. Die verletzte Hand an die Seite gepresst, die andere zur Faust geballt, stand er über ihm, das Gesicht zu einem triumphierenden Grinsen verzogen.
Sein Schlag kam traf nie sein Ziel. Als sich seine Faust nur noch wenige Zentimeter vom Gesicht seines Gegners befand, begann dieser sich wie verrückt auf dem Boden herumzuwälzen und riss Kurt damit mit sich. Er rollte sich ab und kam wankend ein paar Meter entfernt wieder auf die Beine. Genauso wie der Hüne und zu Kurts Entsetzen qualmte sein Überwurf zwar noch, doch von Flammen war nichts mehr zu sehen.
“Das bereust du”, schnaubte der andere und rannte auf ihn zu. Kurt duckte sich unter den ersten Schlägen hinweg und tänzelte seitlich davon, wurde dann aber von einem Tritt in die Seite erwischt, der ihm die Luft aus den Lungen trieb.
Kurt taumelte rückwärts, doch sein Gegner ließ nicht nach. Im Gegenteil, er schien erst jetzt so richtig warm geworden zu sein. Seine Schläge saßen und trieben ihn noch weiter zurück, bis er die Gitterstäbe im Rücken spüren konnte.
“Lass mir doch mal eine Sekunde zum Luft holen.” Es waren Verzweiflung und Schmerz, die da aus ihm Sprachen, doch es irritierte seinen Gegner zumindest so lange, dass sich Kurt aus der unmittelbaren Reichweite seiner Schläge retten konnte.
“Bleib hier.” Die Wut sprühte förmlich aus den kleinen Schlitzen in der Maske, durch die sein Gegner ihn fixierte. “Es gibt für dich kein Entkommen.” Da allerdings mochte er Recht haben, wie es Kurt dämmerte. Es nützt alles nichts, dachte er. Ich muss ihn mit Magie besiegen.
Wieder wich er zwei Schlägen aus, die ihn garantiert zu Boden befördert hätten und konzentrierte sich. Mittlerweile stand ihm der Schweiß auf der Stirn und er spürte, wie seine Bewegungen langsamer wurden, während er das von seinem Gegner leider nicht behaupten konnte.
Jetzt oder nie. Er sprang am nächsten Schlag seines Gegners vorbei und konzentrierte sich auf seinen Ring. Die Energie floss durch ihn hindurch und fand ihr Ziel. Einmal in seinem Gegner festgekrallt, ließ Kurt noch mehr hineinfließen und schickte alles auf das rechte Bein seines Angreifers.
Mit einem entsetzten Aufschrei musste sein Gegner mit ansehen, wie sein Körper ruckartig nach vorne und unten schnellte, während sein Bein nach hinten und oben gehoben wurde. Für einen Augenblick sah es so aus, als hinge er in der Luft, zwei Meter über dem Boden. Dann wichen die Kräfte und er prallte mit dem Kopf zuerst auf den harten Fels. Ein ekelerregendes Knacken war die Folge.
Totenstille erfüllte die große Höhle, in der Kurt einfach nur regungslos dastand und nicht wusste was geschehen war.
Auf der Galerie war alles erstarrt. Sein Gegner bewegte sich nicht mehr. Erleichterung.
Ein zögerliches Klatschen hallte durch die Arena. Weitere folgten, bis der Jubel wie Platzregen auf ihn einprasselte.
Zweifel krochen in Kurts Bewusstsein. Vorsichtig trat ein paar Schritte an seinen Gegner heran und taxierte den massigen Körper. Er bewegte sich immer noch nicht. Nicht einmal der Brustkorb hob sich noch.
Plötzlich verebbte der Applaus.
Kurt blickte sich um und sah, dass Tuck Brandel aufgestanden war.
“Ich gratuliere der Gewinnerin. Joran, die Hirtin.” Wieder brandete Applaus auf und die Frau mit Hirtenstab nickte selbstgefällig in die Runde. Jemand packte ihm am Arm. Er blickte sich um.
Es war die alte Frau, die ihm bedeutete mitzukommen. Kurt rührte sich nicht. Erst langsam sickerte die Erkenntnis durch, was geschehen war, was dieses Knacken zu bedeuten hatte.
“Komm”, befahl sie, doch noch immer bewegte er sich keinen Zentimeter. Mehrere Diener mit unterschiedlichen Uniformen kamen herbei und räumten den Körper weg und zwei nahmen Kurt je links und rechts und brachten ihn zurück durch die Gitter und den Gang in den kleinen Raum, während die Jubelrufe und lauten Klatschtiraden immer leiser und dumpfer wurden.
Die Tür schloss sich hinter ihm und er war allein. Seine Hand pochte und er zitterte am ganzen Leib.
Er hatte ihn doch nur aus der Bahn werfen wollen, um ihn dann zur Aufgabe zu zwingen oder bewusstlos zu schlagen.
Aber töten? Nein, dass hatte er nicht gewollt. Langsam ließ er sich auf die Bank sinken, spürte den kalten Fels durch den Stoff hindurch. Mit fahrigen Bewegungen löste er die Lederriemen an der Maske und nahm sie ab. Sie war nass von innen. Vom Schweiß und von Tränen, denn erst jetzt bemerkte er, dass ihm ein Strom die Wangen hinunterlief, der nicht versiegen wollte.
Die kahlen Wände warfen seine Schluchzer auf ihn zurück und verzerrten sie dabei und er konnte bald schon nicht mehr sagen, wie viel Zeit vergangen war. Kein Geräusch drang mehr aus der Arena zu ihm durch.
Als sich die Tür öffnete, waren schon lange keine Tränen mehr übrig und er hockte still, die Arme um die Knie geschlungen, vor der Bank auf dem Boden.
“Mitkommen”, sagte ihm der Mann, der ihn erst geführt hatte. Kurt bewegte sich nicht. “Mitkommen, habe ich gesagt.” Er bekam wieder keine Antwort.
Der Führer trat einen Schritt auf Kurt zu und rüttelte an seinen Schultern, zog ihn auf die Beine und schob ihn mit einer unbarmherzigen Stärke einfach vor sich her.
Kurt bekam all dies nur wie durch einen Schleier mit und wurde erst wieder klar im Kopf, als sich vor ihm eine Tür öffnete und er ins Wohnzimmer geschoben wurde. Er wusste noch, wie er mit einer viel kleineren Gruppe von Menschen wieder durch die Katakomben getrieben worden war.

Nachklang

“Wie war es?”, wollte Patrick von ihm wissen.
“Was meinst du?” Kurt blickte sich verwirrt um. Etwas fehlte.
“Na der Kampf? Ist alles gut gelaufen? Hast du gewonnen?”
“Der Kampf? Gewonnen”, murmelte er geistesabwesend. Etwas fehlte, doch er kam einfach nicht darauf was es war.
“Wo ist Mum?” Die kleine Gestalt von Pick schälte sich aus der Gruppe Männer hervor und sah ihn erwartungsvoll an.
Etwas zerbrach in Kurt bei dieser Frage. Nicht viel, aber doch etwas. Wo ist sie?, fragte er sich und drehte sich in der Erwartung zur Tür, dass sie sich jeden Moment wieder öffnen würde und Tanja in den Raum geschritten kam.
Doch sie blieb geschlossen. Sie standen stumm und wartend da. Aus einer Minute wurden fünf und aus fünf dreißig.
Pick fragte alle paar Minuten nach, wo seiner Mutter den bliebe, doch keiner gab eine Antwort. Nicht einmal Mr. Bogat oder Sam, die ebenfalls stumm beisammenstanden, denn Tanjas fortbleiben bedeutete auch, dass sich ihre Welt und ihre Realität änderten.
“Sie wird nicht mehr kommen.” Es war Kurt, der seine Stimme wiedergefunden hatte.
“Warum nicht?” Trotz hatte sich in die Stimme des Jungen gemischt. Kurt lächelte ihn traurig an. Was konnte er dem Jungen schon sagen.
“Weil es eben so ist.” Er wusste nicht, wie er es ihm erklären sollte. Wie sollte man einem kleinen Jungen erklären, dass seine Mutter für immer fort war.
“Sie kommt wieder. Ich weiß es. Sie ist immer wieder gekommen.”
“Diesmal nicht.” Kurt legte Pick die Hand auf den Kopf. Er zuckte zurück und blickte ihn wütend an.
“Doch.” Es war nur ein Wort, das jedoch mit einer Kraft getragen wurde, sodass man ihm sofort zustimmen wollte. Doch Kurt konnte nicht.
“Sie ist tot, verdammt”, sagte Mr. Bogat und sprach damit aus was alle dachten. Kurt funkelte ihn wütend an. “Ist doch so. Gibt keinen Grund es schön zu reden.”
“Du lügst!”, brüllte Pick und Tränen blitzten in seinen Augenwinkeln. “Ich glaube dir kein Wort.”
“Weißt du was Junge. Es ist mir verdammt nochmal egal, ob du mir das glaubst. Es ist so. Basta.” Mr. Bogat wedelte lässig mit einer Hand, doch sein Gesicht blieb hart und verbissen.
Man konnte es sehen. Im Kopf wog er Risiken und Vorteile gegeneinander ab, für das, was auch immer er vorhatte.
Pick stand einfach nur da, mit offenem Mund und versuchte die Tränen zurückzuhalten, was ihm nur für eine kurze Zeit gelang, ehe der Damm bei ihm brach.
“Sie… sie… sie… ist nicht tot.” Seine Worte drangen nur langsam durch die lang gezogenen Schluchzer, doch Kurt brannte sich jedes einzelne von ihnen für immer ins Gedächtnis.
Irgendwann verließ sie Mr. Bogat, zusammen mit Sam. Sagten sie wollten noch trainieren, doch das spielte für den Rest von ihnen keine Rolle.
Nun standen sie nur noch zu dritt in dem Raum, der sich zu Beginn des Tages für sie fast, wie ein Stück Heimat angefühlt hatte.
Doch das, was es wirklich hätte zu einem Zuhause machen können fehlte nun und hinterließ nichts als Trauer und Wut.