Hinunter ins Licht führten die Rolltreppen und Jonny war froh, endlich den warmen Untergrund erreicht zu haben. Es waren zwar nur ein paar Schritte von seiner Wohnung bis zur S-Bahn, doch die Luft war so schneidend kalt und er hatte, wie so oft, keine Mütze oder Handschuhe dabei. Warme Luft strömte ihm entgegen, während er in das Neonlicht eintauchte und vor ihm öffnete sich ein langer Gang, der hinunter zu den Gleisen führte.
Der Bass seiner Kopfhörer ließ seine Ohren vibrieren, als er über den feuchten Boden stapfte. Matratzen und Deckenberge türmten sich zu beiden Seiten auf und in manchen von ihnen bewegte sich jemand.
Aus seinen Augenwinkeln sah er gerade noch rechtzeitig die Handbewegung. Es kam manchmal vor, dass einer der Obdachlosen ihn ansprach, doch noch nie hatte er seine Kopfhörer abgenommen, um zu hören, was sie wollten.
“Hast’ vielleicht 20 Cent?”, fragte der Obdachlose mit tiefer, leicht lallender Stimme. Er saß auf einer schmutzigen Matratze, hatte einen schwarzen Hoodie an und neben ihm lag eine weitere Gestalt. Vielleicht seine Freundin, dachte Jonny.
“Tut mir echt leid. Hab kein Geld dabei”, sagte er und war schon wieder im Begriff sich umzudrehen, als er den niedergeschlagenen Blick des Mannes bemerkte. “Brauchst du etwas? Muss nachher eh noch einkaufen.” Der Mann blickte ihn überrascht an.
“Vielleicht eine Cola”, sagte er und sah ihm direkt in die Augen. Freude blitzte auf, doch auch die Angst, einfach nur verarscht zu werden.
“Gerne. Aber ich muss jetzt echt los zur Arbeit. Bis nachher.” Jonny ging weiter, die Gleise nach unten und in die nächste Bahn auf dem Weg zur Arbeit.
Glück gehabt, dachte Jonny, als er das Büro wieder verließ und Richtung Bahn Station stiefelte. Im Büro hatte sich die Arbeit nicht gerade aufgetürmt, und so wurde die gesamte Abteilung zwanzig Minuten früher nach Hause geschickt. Er rieb die Hände aneinander und versuchte so ein wenig Wärme in die tauben Finger zu bringen, bis endlich die Bahn einfuhr. Die Sonne war schon längst verschwunden und die Kälte wurde noch erbarmungsloser als auf dem Hinweg.
Erst in der Bahn fiel ihm wieder der Obdachlose vom heutigen Morgen ein. Eigentlich wäre er viel lieber direkt nach Hause gefahren. Seine Aussage, er müsse noch einkaufen war eine Lüge, doch gesagt war nun einmal gesagt. An seiner Station stieg er aus, doch anstelle sich nach links und in Richtung Heimat zu wenden, stieg er rechts die Treppe nach oben.
Im Supermarkt legte er eine Cola in den Einkaufswagen, der seit dem neuen Lockdown wieder einmal zur Pflicht geworden war. An der Backstation schnappte er sich noch eine Tüte, mit Resten von Gestern, und nahm noch ein paar Laugenstangen mit.
Wieder in der Bahnstation ging er auf die Obdachlosen zu. Viele der leeren Matratzen waren jetzt mit drei oder vier Menschen gefüllt, die sich in Decken hüllten oder gegenseitig wärmten.
“Hier ist die Cola.” Er stellte sie neben die Matratze und nickte dem Obdachlosen zu, der sein aufmunterndes Lächeln unter der Maske nicht sehen konnte. Kurz sah er ihn verwirrt an, doch dann wich der Ausdruck einem Wiedererkennen.
“Du bist doch der von heute Morgen. Stimmt. Du hast die Cola versprochen.”, sagte er und nahm die Plastikflasche in die Hand.
“Natürlich. Und ich dachte, vielleicht könnt ihr das auch noch gebrauchen.”, sagte Jonny und kramte die Brötchentüte aus der Tasche.
“Echt jetzt? Und was willst du dann essen?”
“Ich habe noch genug zu Hause.”
“Warte mal. Kennst du Zwiebelbrot? Habe ich hier gefunden.” Der Obdachlose zog eine zerknitterte Papiertüte unter einem alten Kissen hervor und bot sie Jonny an. “Willst du ein Stück probieren.”
“Nein danke. Behalte es lieber.”, sagte er. “Braucht ihr sonst noch etwas? Wir haben zu Hause noch eine Decke, die wir nicht mehr brauchen.”
“Echt jetzt? Gar nicht fragen. Einfach herbringen, auch wenn niemand da ist. Leg sie einfach auf eine der Matratzen, dann freut sich jemand”, sagte er und seine Augen wurden groß. Jonny nickte ihm zu und verabschiedete sich.
“Bis gleich!”, rief ihm der Mann hinterher.
Jonny stieg die Treppe nach oben und klappte seinen Kragen hoch, um sich besser gegen den Wind zu schützen. Den Schlüssel schon in der Hand, ging er auf die Haustür zu und schloss sie auf.
“Wo ist die Decke?”, fragte er seinen Freund, nachdem er ihn herzlich in den Arm genommen hatte. Vor ihm lagen einige Bücher und Aufzeichnungen aus dem Studium.
“Welche Decke?”
“Die, die wir aussortiert haben.”
“Die sind im Keller.”
“Sind? Wie viele waren es nochmal?”
“Drei. Warum fragst du?”
“Wir wollten die doch spenden. Ich habe gerade mit einem der Obdachlosen geredet und er meinte, wir sollen die Sachen einfach vorbeibringen. Ich mach das eben. Willst du mitkommen?”, fragte Jonny. Er überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf.
“Ich muss das noch fertig machen. Geh du ruhig. Nimm noch die Masken mit. Wir haben genug.”
Jonny ging in den Keller und holte die Tasche mit den drei Matratzen. Dann steckte er die beiden Tüten mit den OP-Masken in die Innentasche seiner Jacke, küsste seinen Freund und ging wieder nach draußen.
Schnee knirschte unter seinen Füßen, als er auf den Eingang zur S-Bahn-Station zuging.
“Hier bitte. Da sind drei Decken drin.”, sagte er und stellte die Tasche vor die Matratze auf den Boden.
“Ne, oder? Das ist doch nicht dein Ernst?”
“Doch, ich habe genug, da kann man auch was geben. Wir sind doch alle Menschen.” Tränen stiegen dem Obdachlosen in die Augen und auch die Frau, die mit ihm auf der schmutzigen Matratze saß, lächelte.
“Und ich habe auch noch ein paar Masken.” Jonny griff in die Innentasche und reichte jedem eine der Packungen.
“Wir sollen wir dir nur danken?”, fragte die Frau.
“Nicht nötig. Wirklich. Wir haben genug und ein Dach über dem Kopf.”
“Das ist echt klasse. Hey Bob. Guck mal wir haben drei Decken.”, sagte der Obdachlose zu einem abgemagerten Kerl, der mit einer Bierdose in der Hand auf sie zugewankt kam. Unwillkürlich wich Jonny einen Schritt zurück, doch niemand schien das zu bemerken, oder sie waren es einfach gewohnt.
“Ich habe auch noch Decken.”, lallte Bob und blieb schwankend neben Jonny stehen.
“Ich muss dann mal wieder. Mein Freund wartet zu Hause”, sagte er und hob die Hand zum Abschied.
“Danke nochmal. Ich hätt’ dann noch gerne ein Brötchen mit Salami”, sagte der Obdachlose im schwarzen Hoodie. Jonny lachte.
“Heute nicht.”
“Das war ein Scherz.” Auch die anderen Beiden hoben die Hände und nickten im zu. Ihre Gesichter strahlten, wenn auch nur für einen Moment.
Oder zumindest hätte es so sein können, doch wie es so ist, wenn man Tag ein Tag aus durch die Kälte hetzt, den Zug bekommen muss, oder mit den Gedanken gerade an einem anderen Ort ist. Man hat keine Sinne mehr für die wichtigen Dinge. Für eine Handbewegung eines Obdachlosen zum Beispiel. Vielleicht bemerkte Jonny die Handbewegung wirklich, vielleicht hat er sogar kurz daran gedacht die Kopfhörer abzunehmen, doch am Ende ging er weiter, stieg in den Zug und dachte daran, was wohl gewesen wäre, hätte er geholfen. Jeden Tag, an dem er vorbei geht, sagt er sich, dass morgen der Tag ist, an dem etwas geben wird, an dem es ihm endlich nicht mehr egal ist.
Hätte er die Zeit für nur einen Blick aufgebracht, er hätte gesehen, dass es nicht mehr der Mann im schwarzen Hoodie ist, der dort winkt, auch nicht die Frau oder Bob. Es sind andere, die hoffen, flehen und verzweifeln, dass man sie bemerkt und ihnen etwas gibt, auch wenn es nur ein Lächeln ist.