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»Was für ein quitschfideler Tag.« Lord Reginald Bonchester lehnte sich in seinem rostigen Klappstuhl zurück und betrachtete die Umgebung. Seine Ländereien, wie er und nur er sie nannte, erstreckten sich genau vier Meter weit in die Ferne, angefangen beim Ende der improvisierten Veranda, bis zum Anfang des nächsten klapprigen Wohnwagens.
Er war mächtig stolz darauf, denn niemand hier pflegte sein Eigen so wie er es tat. Nicht einmal Lady Anne Orkney, die jedoch niemals müde würde, anderes zu behaupten. Sogar in Gesellschaft! Jedes Mal, wenn Lord Reginald daran dachte, schüttelte er den Kopf, wobei kleine Wölkchen aus weißem Puder von seiner Perücke rieselten. So auch jetzt. Mit einem theatralischen Seufzer stand er auf, ging zu einem frei stehenden Schminktisch aus angelaufenem Kupfer und nahm eine kleine Dose hervor, in der sich klumpiges, weißes Pulver befand. Mit einer Puderquaste nahm er etwas davon auf und verteilte es auf seinem Haupt, wobei die Hälfte wieder herunter rieselte und sich auf Schultern und Rücken verteilte.
»Guten Morgen«, schallerte es von jenseits der Veranda zu ihm herüber.
»Oh, ich wünsche ebenfalls einen guten Morgen, Lady Sophie. Wie gehen die Geschäfte?« Dabei deutete er eine leichte Verbeugung an. Nicht zu weit, nur so, dass man es ihm nicht als unhöflich auslegen konnte. Schließlich gab es keinen feierlichen Anlass, wie einen Ball oder eine freundschaftliche Partie Bierstechen.
»Danke. Danke. Es könnte nicht besser gehen. Ich habe einen vorzüglichen Kuchen gebacken, müssen sie wissen. Ach, sie wissen ja nicht, wie ich mich freue, Sie hier anzutreffen, alter Freund. Stellen Sie sich vor, Lord Brandon, dieser Schlingel…« Doch da hörte Lord Reginald schon gar nicht mehr zu. Wenn Lady Sophie Cheddar erst einmal begann zu reden, konnten Sodom und Gomorra untergehen, ohne dass sie das in ihrem Redefluss stören oder gar unterbrechen würde. Er vermutete ganz stark, dass sie selbst dann nicht aufhörte zu tratschen, wenn sie ganz alleine in ihrem Wagen saß und genüsslich an ihrem billigen Scotch nippte. Er nickte nur hin und wieder, wenn Lady Sophie ihn auffordernd ansah, setzte dabei ein erstauntes Lächeln auf. Ab und zu streute er auch mal ein »Famos« oder »Skandalös« ein, um seine gute Freundin bei Laune zu halten.
Während sie ihren Wortschwall weiter auf Lord Reginald ergoss, setzte sie sich auf einen der Klappstühle auf der Veranda, was angesichts ihres gewaltigen Ballkleides beinahe unmöglich erschien. Sie schaffte es dennoch. Mit einer geübten Handbewegung griff sie in die Blechwanne mit den kalt gestellten Dosen und eine Sekunde später riss ein wohlbekanntes Zischen Sir Reginald wieder in die Realität.
»Darf ich Euch auch eins anbieten, alter Freund?«, fragte sie und präsentierte ihm eine weitere Dose als wäre es eine teure und seltene Flasche Wein.
»Ihr scheint zu vergessen, dass es sich dabei um meine Getränke handelt, Teuerste.«
»Mit nichten. Doch ich dachte, wenn ich mich schon bediene, dann kann ich Euch wenigstens daran teilhaben lassen.«
»Wie aufmerksam von Euch«, sagte Lord Reginald mit einem leicht gekräuselten Lächeln und nahm die angebotene Dose entgegen. Er hatte sie gerade mit einem kräftigen Zug geleert, als eine Tür aufgeschlagen wurde und ein rhythmisches Quietschen die Idylle des Campingplatzes durchbrach. Einen Augenblick später bog ein kleiner Mann, in einem verrosteten Rollstuhl sitzend, um die Ecke und hielt genau auf Lord Reginald und Lady Sophie zu.
»Mein Faberjei, mein Faberjei!«, tönte er und seine Krone wippte auf dem fast kahlen Kopf hin und her, wobei sie nur noch durch das Fehlen der Juwelen glänzte.
»Lord Brandon. Sie wirken ja ganz aufgebracht. Kommen Sie und setzten Sie sich«, sagte Lady Sophie, blickte vom dem Mann zu seinem Rollstuhl, dann wieder zurück und errötete. Doch Lord Brandon war zu sehr in Rage, um diesen kleinen Fauxpas ihrerseits zu bemerken.
»Diebe, Halunken, Verbrecher. Sie haben mein Faberjei gestohlen.«
»Nun mäßigen Sie bitte ihren Tonfall. Was sollen denn die anderen denken?«, schaltete sich nun auch Lord Reginald ein. Immerhin war dies sein Reich und er legte sehr viel Wert auf seinen Ruf. »Wenn Sie sich nicht beruhigen und ihr Trara auf mich zurückfällt, so werde ich mich leider gezwungen sehen und Satisfaktion fordern.« Lord Brandon Spenwood war mittlerweile an der Veranda angekommen und blickte suchend umher.
»Keine Rampe?«, murrte er. Anscheinend hatte er sich wieder etwas beruhigt, ganz zur Erheiterung von Lord Reginald und Lady Sophie.
»Natürlich nicht. Wie sähe das denn aus?« Er hatte schon oft überlegt, ob er nicht eine anbringen sollte, doch die Idee wollte sich einfach nicht ins sorgsam gepflegte Unkrautbeet, wie er es nannte, einfügen lassen. In Lord Reginalds Kopf gab alleine schon das Wort »Beet« einem Garten Struktur.
»Wie können wir Ihnen denn behilflich sein Lord Brandon? Sie sehen ja aus, als sei der Teufel persönlich Ihnen auf den Fersen. Hopfentee?« Ihre Hand wanderte wieder in das Kupferbecken und zauberte eine weitere Dose hervor, die sie sogleich dem neuen Gast anbot.
»Es handelt sich dabei immer noch um mein Bier, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben dürfte«, warf Lord Reginald ein, machte jedoch auch keinerlei Anstalten, die Dame aufzuhalten.
»Natürlich dürfen Sie, aber ich nehme es trotzdem, schließlich bin ich und alles andere wäre auch unhöflich«, sagte Lord Brandon mit befehlsgewohnter Stimme. Es zischte wieder, dann folgten drei kräftige Schlucke und die Dose flog im hohen Bogen über den Zaun.
»Schon besser. Habt Dank, werter Lord Reginald.«
»Habt Ihr gerade meinen Pfand zu Euch über den Zaun geworfen?«, fragte Lord Reginald mit entsetztem Ausdruck im Gesicht.
»Da kann ich mich mit besten Willen nicht daran erinnern, doch so etwas würde mir gar nicht ähnlich sehen.«
»Doch, ich glaube das habt Ihr wirklich, verehrter Lord Brandon. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, sagte Lady Sophie.
»Papperlapapp. Das ist jetzt auch nicht wichtig. Sie haben mein Faberjei gestohlen«, sagte Lord Brandon, nun wieder deutlich aufgebrachter.
»Jetzt sagt doch mal Lord Brandon. Was ist das denn für ein Faberjei?«, fragte Lord Reginald und zog sich langsam einen weiteren Klappstuhl herbei. Er hatte solch ein Wort noch nie zuvor gehört.
»Lord Reginald. Ihr müsst doch wohl wissen was ein Fabergé-Ei ist«, sagte Lady Sophie.
»Ja genau, sie haben mein Faberjei gestohlen.« Lord Reginald nickte langsam und blickte von Lord Brandon, der langsam Schaum vor dem Mund bekam, zu Lady Sophie, die ihm aufmunternd zulächelte. Schließlich nickte auch er und wandte sich wieder an den Rollstuhl fahrenden »König«.
»Wer soll es denn gestohlen haben?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich kann jetzt wohl schlecht in meinem Alter und meiner Stellung durch die Siedlung fahren und die Leute beschuldigen.« Er wies auf seine Krone und rückte sie so zurecht, dass sie nun auf der anderen Seite seines Kopfes schief saß.
»Ich denke, ich weiß, worauf dies hinauslaufen soll und ich bin nicht gestimmt eine solche Strapaze auf mich zu nehmen, Lord Brandon«, sagte Lord Reginald und trank die andere Hälfte seines Bieres aus. Er achtete darauf, dass er die Pfanddose außerhalb der Reichweite des Rollstuhlfahrers abstellte.
»Dann befehle ich es Euch. Ich bin schließlich der König.«
»Aber nur von Eurem Reich und dies hier ist meines, wie Ihr sicherlich nur kurz vergessen habt.«
»Der König herrscht über alle Ländereien«, sagte Lord Brandon in ernstem Ton.
»Alle Ländereien, die ihm zustehen«, berichtigte ihn Lady Sophie. »Und ich entsinne mich noch gut den Zeiten, als wir uns einigten, dass jeder Herr über sein eigenes Reich sein soll. Ist es nicht so Lord Brandon?« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, ließ sie einen Rülpser ertönen, der von den Blechwänden der umstehenden Wohnwagen zurückgeworfen wurde.
Lord Brandon murmelte etwas unhörbares, doch in unverkennbar grimmigem Ton.
»Was sagtet Ihr? Ich konnte es leider nicht vernehmen?«, fragte Lord Reginald.
»Ich ersuche euch offiziell um Staatshilfe, Lord Reginald Bonchester und Lady Sophie Cheddar«, sagte der alte Mann mit tiefer, von Groll erfüllter Stimme. Lord Reginald konnte ein Grinsen kaum mehr unterdrücken. Er stand auf, klopfte sich den Dreck vom zerschlissenen Frack und reichte seinem Nachbarn die Hand.
»Auf das Ihr mir den Gefallen eines Tages erwidern werdet«, rezitierte er die gebotene und altehrwürdige Antwort. Lady Sophie tat es ihm nach und Lord Brandon nahm sie beide, zuerst Lady Sophies und dann die von Lord Reginald.
»Hier nehmt dies und trinkt auf unseren Schwur«, sagte sie und reichte Lord Brandon ein weiteres von Lord Reginalds Bieren. Dies gehörte nicht zum offiziellen Schwur. Die Krone wackelte bedrohlich, als er es zischend öffnete und in einem Zug leerte. Im nächsten Augenblick flog eine weitere leere Dose über den Gartenzaun, doch Lord Reginald überging diesen Fauxpas, denn er wollte keine handfeste diplomatische Krise auslösen, jetzt da er einen Stein bei diesem alten Zausel im Brett hatte.
»Also dann, ich empfehle mich und kommt zum Rapport, wenn Ihr neues in Erfahrung gebracht habt.« Lord Brandon salutierte vor ihnen, drehte mühsam seinen Rollstuhl und fuhr quietschend und leicht torkelnd davon.
»Ich werde mich dann auch einmal von Euch verabschieden«, sagte Lady Sophie. »Ich habe schließlich heute auch noch Bedeutendes zu erledigen.«
»Darf ich Euch daran erinnern, Teuerste, dass auch Ihr gerade den Schwur geleistet habt?«
»Natürlich dürft Ihr dies tun. Doch ich hege keinen Zweifel, dass Lord Brandon auch nur eine Sekunde erwartet, dass ich mich daran gebunden fühle. Schließlich bin ich eine Lady.«
»Natürlich«, sagte Lord Reginald und setzte ein verständliches Lächeln auf, obwohl sie beide wussten, dass es nicht an dem Umstand lag, dass sie eine Lady war. Lady Sophie Cheddar war einfach die Unzuverlässigkeit in Person, deshalb erwartete niemand, dass sie sich an ihr Wort hielt und deshalb bezog sie auch nie jemand in waghalsige diplomatische Aktionen mit hinein, wenn es sich vermeiden ließe.
»Aber Ihr könnt gerne noch hier bleiben, wenn es Euch beliebt, wo Ihr es Euch doch eh schon gemütlich gemacht habt.«
»Nein, nein. Ich will Euch nicht weiter zur Last fallen, alter Freund.« Sie verbeugte sich und machte sich mit federnden Schritten auf dem Weg zu ihrem Wagen, wobei ihr aufgebauschtes Ballkleid dabei so aussah, als würde es Wellen schlagen. Ein Blick in die Kühlwanne zeigte Lord Reginald den wahren Grund. Es war kein Bier mehr da.
»Das werde ich Euch heimzahlen müssen«, sagte er leise und kniff dabei die Augen zusammen, während er Ihr hinterher sah.
»Also dann, wo fange ich am besten an?« Es war eine Frage in den leeren Raum hinein, doch sie zu stellen, half ihm, sich zu konzentrieren. »Sir Brandon wird sich wohl kaum selbst sein Fabergé-Ei gestohlen haben und auch mich selbst kann ich ausschließen.« Mit einen Zeigefinger tippte er sich mehrmals gegen sein Kinn. Auch das half ihm.
»Vielleicht war es Lady Sophie. Aber nein, das traue ich ihr nicht zu. Doch vielleicht baut die werte Dame gerade auf diesen Umstand? Nein. Nicht sie. Ich bin mir sicher.«
Plötzlich verdunkelte sich die Welt um ihn herum. Im ersten Moment dachte er, der Mond habe sich vor die Sonne geschoben, doch dann erkannte er, dass es nur Lady Magret Wigmore war oder, um es genauer auszudrücken, ihr Hut. Sie trug immer Hüte unterschiedlichster Art und Weise und einer war größer als der andere. Einmal trug sie einen mit so breiter Krempe, dass sie sich nicht zwischen den Wohnwagen hindurch bewegen konnte, ohne irgendwo stecken zu bleiben. Heute trug sie einen kleineren Hut, doch konnte er Lord Reginald immer noch Schatten spenden, ohne dass er die ständig gut gelaunte Dame berühren musste.
»Ich habe Sie gar nicht kommen hören und ich muss Sie leider enttäuschen. Ich habe keine Zeit, um Ihnen etwas Gesellschaft zu leisten. Wichtige Angelegenheiten, Sie verstehen?«, sagte der Lord und blickte zu der Frau auf, die ihn um mehr als einen Kopf überragte.
»Und ich wie ich das verstehe«, trällerte sie mit so hoher Stimme, dass die Scheiben zu vibrieren begannen. »Ich kam nur her, um zu erfragen, was es mit der Laune des guten Lord Brandon auf sich haben möge. Er erschien mir recht erbost, als er mir eben beinahe über den Fuß gefahren wäre.« Lord Reginald klingelten die Ohren, doch er ertrug es mit stoischer Miene. So weit kommt es noch, dass ich mir hier etwas Anmerken lasse, dachte er.
»Habt Ihr es denn noch nicht gehört? Ihm wurde sein Fabergé-Ei gestohlen.«
»Ach nein, wie schrecklich.« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und blickte sich verstohlen um, ehe sie sich zu Lord Reginald herunter beugte und zu ihm flüsterte: »Ist denn schon bekannt, wer es gestohlen hat.«
»Noch nicht«, antwortete er in ganz normaler Lautstärke, was die Lady ein wenig von ihm abrücken ließ. »Doch so wahr ich hier stehe und Lord Reginald Bonchester bin, ich werde nicht eher ruhen, als dass ich das Ei in meinen Händen halte.« Er warf sich in die Brust und blieb einige Sekunden lang stehen, so als würde jemand ein Portrait von ihm malen.
»Nichts anderes habe ich von Ihnen erwartet. Dürfte ich mir ein Bier von Ihnen erbeten, um auf ihren Triumph anzustoßen?«
»Es verfällt sich so… nun… Das Bier ist leider zur Neige gegangen«, sagte er und die Röte stieg ihm ins Gesicht und ließ seine, mit Rusch bedeckten, Wangen zusätzlich leuchten. Es war ihm peinlich diesen Mangel an gastgeberischer Qualität eingestehen zu müssen.
»Wie überaus Schade. Aber nun, da kann man nichts machen. Ich werde mich nun wieder auf den Weg machen, will Euch ja nun auch nicht von Eurer wichtigen Aufgabe abhalten.« Sie machte einen leichten Knicks und drehte sich um. Die künstliche Sonnenfinsternis von Hut entschwand mit ihr als sie sich entfernte.
»Halt. Nicht so schnell. Ich würde, sofern Ihr es gestattet, noch einige Fragen an Euch richten wollen.«
»So macht denn schnell, mein Lieber. Ich werde auch nicht jünger, nur schöner.« Sir Reginald nickte ernst.
»Ist Euch irgendeine Merkwürdigkeit in letzter Zeit untergekommen?«, fragte er.
»Glaubt Ihr etwa, dass ich meine werten Nachbarn ausspioniere?«, entgegnete die Lady.
»Natürlich würde ich mir so eine Behauptung nie erlauben«, sagte Lord Reginald, obwohl er ganz genau wusste, dass es sich so verhielt. Schon oft hatte er zwischen den Vorhängen ihres Wohnwagens Augenpaare hervorblitzen sehen. Was dies allerdings über seine Angewohnheit sagte, in die Wohnwagen der anderen zu blicken, spielte für Lord Reginald nur eine untergeordnete Rolle.
»Will ich auch nicht gemeint haben. Doch um Euch eine Antwort zu geben, nein, ich habe keinerlei Merkwürdigkeiten bemerkt. Ich saß den gesamten Morgen in meinem Wagen und bürstete meine Hüte. Ihr wisst genau, wie viele ich habe. Es braucht seine Zeit, damit sie so strahlend aussehen, wie der, den ich trage.« Staub rieselte von ihrem Hut, als sie sich verbeugte, um ihn zu präsentieren. Lord Reginald nickte. Er würde es sich merken.
»Habt Ihr vielleicht einen Verdacht, wer Lord Brandon seinen Schatz gestohlen haben könnte?«
»Das habe ich nicht, doch wenn Ihr mich schon fragt, so halte ich es für möglich, dass der alte Despot es selbst gestohlen hat, nur um sich wichtig zu machen.«
»Das sind schwerwiegende Anschuldigungen. Könnt Ihr das beweisen?«, fragte Lord Reginald, der diese Idee bisher nicht erwogen hatte, doch er musste zugeben, dass es sein konnte. Seine Hand wanderte wieder ans Kinn und massierte die Stoppeln seines Bartes.
»Natürlich nicht. Ich spioniere nicht und mich geht es nichts an, was die anderen treiben.« Ihr Gesicht färbte sich rot vor Empörung, doch Lord Reginald achtete nicht darauf. Nach einem Moment der Stille verschwand die Farbe wieder von ihrer Haut. »Wenn ihr es denn unbedingt wissen müsst, ich sah ihn, wie er verstohlen umherfuhr. Heute morgen, noch bevor die Sonne ihr Antlitz über die große Hecke hob.«
»Wie meint Ihr?« Lord Reginald blickte überrascht auf. Für einen kurzen Moment hatte er vergessen, dass er noch mit Lady Magret sprach.
»Ihr seid ein Schuft, Lord Reginald. Einer Dame so die Aufmerksamkeit zu verwehren, derer sie gebührt. Ich meinte, dass Lord Brandon in den frühen Stunden dieses Tages umhergefahren ist und nun entschuldigt mich.« Mit diesen Worten stapfte sie davon, wobei die ausladende Krempe ihres Hutes kurz an einem rostigen Wetterhahn hängen blieb, und sie zurückzog. Ihre Hüte schienen mit ihr verwachsen zu sein, sodass die gewaltige Frau kurz mit dem Gleichgewicht rang, es aber zu seinem Verdruss noch rechtzeitig wiederfand. Lord Reginald mochte sie nicht und war erleichtert, als auch der allerletzte Rest der Hutkrempe hinter der nächsten Ecke verschwand. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und seine Hand fischte in dem Becken umher.
»Sapperlot!«, rief er aus, als er sich wieder daran erinnerte, dass sie ja leer war. »Ich muss dringend Maßnahmen treffen, dass diese Lauseleute mir nicht immer meine herrlichen Tropfen rauben.« Doch erst einmal musste er sich um den Fall des verschwundenen Eis kümmern. Falls Lord Brandon wirklich selbst dahinter steckte, was konnte dann sein Motiv sein? Wollte er sich einfach nur wichtig machen?
»Würde ihm ähnlich sehen«, sagte Lord Reginald zu sich selbst, während bei jeder seiner Bewegungen erneut Puder von der Perücke rieselte. »Er hatte schon immer eine dramatische Art an sich.« Aber er wollte einfach nicht daran glauben. Die Verzweiflung in den Augen seines ungeliebten Nachbarn war zu echt gewesen, was ihn natürlich auf der einen Seite freute, doch auf der anderen Seite, war die Verlockung einfach viel zu groß, dass dieser falsche König ihm etwas schuldig war.
»Ich kann so einfach nicht arbeiten.« Er kratzte sich am Kopf und noch mehr weißes Puder rieselte aus seiner Perücke, die langsam einen gräulichen Ton annahm. Er ging zu seinem Wagen und blickte verschlagen in alle Richtungen, vor allem aber zu dem Fenster von Lady Magret. Niemand schaute ihm zu, also ging er auf ein Knie herunter und betätigte einen versteckten Hebel an der Unterseite seines Domizils. Ein Klicken ertönte, als das kleine Fach direkt neben der Tür aufsprang. Er beeilte sie, die kleine braune Tüte hervorzuholen und das Fach wieder zu schließen.
»Ahh mein Schatz«, seufzte er, als er seine letzte Dose Bier aus ihrem Gefängnis befreite. Die Sonne hatte das Geheimfach noch nicht aufheizen können und so lag sie noch angenehm kühl in seiner Hand. Als er das Zischen hörte, legte sich ein zufriedener Ausdruck über sein aristokratisches Gesicht.
Er genehmigte sich einen kleinen Schluck, denn schließlich musste diese Dose für den Rest des Tages reichen. Mit einem Gedanken daran, wie schnell dieses Hopfengebräu schal werden würde, zuckte er mit den Schultern und kippte den Rest seinen durstigen Schlund hinunter. Ein wohliges Zittern durchlief seinen Körper.
»Schon besser«, sagte er und wandte sich wieder seinem Fall zu. »Überlegen wir einmal, wer es auf das Ei abgesehen haben könnte. Es ist schon merkwürdig, dass Lady Magret sagt, sie habe ihre Hüte gebürstet und dann mit einer verstaubten Kopfbedeckung vor mir steht. Doch ist die Gute wirklich derart dreist, mir eine so offensichtliche Lüge zu präsentieren, wenn sie es in Wahrheit gewesen ist? Ich möchte es doch einmal stark anzweifeln.« Wieder wanderte seine Hand zu seinen Stoppeln und massierte sie. Doch gerade als seine Gedanken weiter den Weg zur Lösung des Falles entlang wandern wollten, wurde eine Tür aufgeschlagen und er verlor den Faden.
»Hallöchen!«, rief eine wohlbekannte Stimme und Lady Anne Orkney schob ihren breiten Körper durch das schmale Gartentor und watschelte auf ihn zu. »Wie geht es denn meinem werten Herrn Nachbarn?«
»Ich habe zu tun«, sagte Lord Reginald knapp und verstieß damit gegen jedwede Etikette.
»Ihr immer mit Eurem geschäftigen Treiben. Das würde mich doch sehr verdrießen. Ein Glück, dass ich frei von jedweder Verpflichtung bin.« Sie zwinkerte Lord Reginald zu und lachte, sodass ihr gesamter Körper bebte. Sie mochte er fast noch weniger als Lord Brandon, zumindest aber teilten sie sich denselben Platz.
»Liegt das nicht nur daran, dass Ihr Euch einfach nicht zu beschäftigen wisst, meine Teuerste?«, fragte er und hoffte sie damit so zu beleidigen, dass sie schnell wieder verschwand. Doch sie lachte nur.
»Ihr beliebt zu scherzen, mein Guter. Ich könnte mich ja beschäftigen, doch ich will es so. Ich lebe in den Tag hinein und wandere umher. Was könnte schöner sein?« Lord Reginald konnte gerade noch dem Drang widerstehen, sich mit der flachen Hand gegen die Stirn zu hauen, doch er beschloss, wenn er sich schon mit ihrer Anwesenheit abfinden musste, konnte er es auch produktiv gestalten.
»Meine Gute, habt Ihr zufällig im Laufe des Morgens mitbekommen, was mit dem Fabergé-Ei von Lord Brandon geschehen ist?«
»Es ist etwas damit geschehen?«
»Ja, es ist gestohlen worden.«
»Das ist ja schrecklich. Wer würde denn so etwas tun?«
»Das versuchen ich gerade herauszufinden.«
»Ich habe zumindest nichts gesehen, darauf schwöre ich.« Sie hob die Hand, wie um einen Schwur zu leisten.
»Man sollte einen Schwur nicht vorschnell leisten, Lady Orkney. Nachher wisst ihr doch etwas, erkennt es nur nicht und dann wäre der Schwur gebrochen.«
»Aber ich habe wirklich nichts gesehen« , sagte sie mit stolz nach oben gerecktem Kinn. »Sonst wüsste ich es doch wohl.«
»Manchmal sind es die kleinen Dinge, die uns vielleicht absolut unwichtig erscheinen und es dann am Ende doch nicht sind«, sagte er klug und nickte. »Vielleicht ein Tor, das offen stand, oder vielleicht ist euch jemand begegnet, der euch sonst nie um diese Zeit über den Weg läuft. Alles was ich sagen will, ist, dass wir es oft einfach nicht wissen.«
»Aber derlei ist mir einfach nicht widerfahren. Das erste Mal, dass ich heute meinen Wagen verließ, war, um Euch einen Besuch abzustatten, doch ich sehe, dass ihr zu beschäftigt seid, um einer alten Freundin Gesellschaft zu bieten. Guten Tag.« Sie drehte sie um und Lord Reginald hatte für einen kurzen Augenblick Angst, sie würde ihn mit ihrem gewaltigen Körper zur Seite rammen. Doch sie verfehlte ihn und watschelte von seiner Veranda, wobei das Holz bedrohlich knarrte. An einigen Stellen konnte man schon Risse im alten Holz sehen, was selbstverständlich nicht nur an Lady Orkney lag, sondern auch der Tatsache, dass es einfach altes, sehr morsches Holz war.
Erst als Lord Reginald in der Ferne die Tür ihres Wagens wieder zuknallen hörte, es war ein gewaltiger Wumms, gefolgt von einem Quietschen, wandte er sich wieder seinem Problem zu.
»Niemand hat etwas gesehen und keiner will es gewesen sein, hmm.« Er ging auf und ab und wippte ein paar Mal auf einer Stelle herum, wo es besonders bedrohlich knarrte. Er würde sich ja selbst darum kümmern, dass die Veranda wieder ansehnlich wurde, doch es stand einem Mann von seinem Stand zweifelsfrei zu, dies andere machen zu lassen.
Es setzte sich wieder in seinen Stuhl und lehnte sich so weit zurück, dass er die schmutzige Markise über sich sehen konnte.
»Wer ist es bloß gewesen?« Die Antwort schien immer gerade so weit weg zu sein, dass er sie nicht greifen konnte. Er dachte nach. Vielleicht würde ein kleiner Spaziergang ihm helfen.
»So soll es sein«, rief er aus und sprang auf die Beine. Doch so, in seinen Frack gekleidet, konnte er auf keinen Fall los. Draußen an seinem Wagen, an einem Haken, hing ein Satz Kleidung, den man gewöhnlich für die Jagd anzog. Nun, er war auf der Jagd nach Hinweisen, ja gar nach der Lösung selbst. Es erschien ihm passend, also zog er sich um.
Er wollte gerade einen Schritt von der Veranda selbst tun, um sich in das Abenteuer zu stürzen, als wieder einmal das Geräusch einer aufschlagenden Tür an sein Ohr drang, gefolgt vom Quietschen der Reifen. Nur wenige Lidschläge später sah er Lord Brandon aufgeregt um die Ecke seines Wohnwagens rollen.
»Lord Reginald. Mein Faberjei.«
»Ich suche es ja Lord Brandon, doch so etwas darf nicht überstürzt werden. Ich wollte mich just gerade auf den Weg begeben, um nach Spuren zu suchen«, rief er dem Versehrten entgegen.
»Ihr versteht nicht. Mein Faberjei.« Eine weitere Tür wurde aufgeschlagen und Lady Sophie trabte um die Ecke. »Wir wissen doch, dass ihr Fabergé-Ei verschwunden ist.« Sie blickte halb belustigt, halb genervt zu Lord Reginald und rollte mit den Augen.
»Ich bin gespannt was er nun wieder möchte. Es kann ihm unmöglich noch ein zweites gestohlen worden sein«, sagte sie, nachdem sie auf Lord Reginalds Veranda angekommen war. Es dauerte noch eine geraume Weile, bis Lord Brandon bei ihnen war, obwohl sein Weg kürzer war als der von Lady Sophie, doch seine Reifen schienen in den paar Stunden noch platter und verbogener geworden zu sein. Er war ganz außer Atem als er schließlich vor ihnen zum Stehen kam, seine Krone immer noch auf dem Kopf.
»Mein Faberjei«, prustete er hervor.
»Mein Lieber Lord Brandon. Sie müssen Lord Reginald schon die Zeit geben, die er benötigt, um das Ei zu finden«, sagte Lady Sophie und nickte Lord Reginald aufmunternd zu. Dieser bedankte sich, ebenfalls mit einem knappen Nicken. »So ist es.«
Lord Brandon brauchte fast geschlagene fünf Minuten, um sich von seinem Rollstuhlsprint zu erholen. Doch dann streckte er triumphierend die linke Hand in die Höhe.
»Was soll das sein?«, fragten Lord Reginald und Lady Sophie gleichzeitig, während sie das kleine etwas in seiner Hand betrachteten. Es war von weißlicher Farbe und war entfernt oval.
»Mein Faberjei!«, rief Lord Brandon und lachte sein zahnloses Lachen.
»Nein, das ist kein Fabergé-Ei«, versuchte es Lord Reginald in einem möglichst beruhigendem Tonfall. Er hatte das Kleinod mittlerweile als normales Hühnerei identifiziert und war der festen Überzeugung, Lord Brandon werde wahnsinnig.
»Das ist mein Faberjei«, beharrte indes sein Gegenüber, und zwar mit einer solchen Beharrlichkeit, dass Lord Reginald seine Stirn in Falten zog.
»Sind Sie sich sicher, Lord Brandon?«, fragte Lady Sophie und sah den alten Mann eindringlich an.
»Aber natürlich. Ich werde doch wohl wissen, wie die Eier von meiner Faberje aussehen, oder nicht meine Teuerste?«
»Selbstverständlich tut Ihr das«, sagte sie und lächelte.
»Wären die Dame oder der Herr so gütig mir zu erzählen, was hier eigentlich gespielt wird?« Lord Reginald tippte in schnellem Rhythmus mit seinem Absatz auf das Holz der Veranda. Lady Sophie lachte.
»Mein lieber Reginald, versteht ihr es denn nicht? Lord Brandon. Fabergé ist ein Huhn, oder?« Der alte Lord im Rollstuhl nickte eifrig und hielt immer noch das Ei in die Lüfte gereckt. »Versteht Ihr es nun?« Natürlich verstand er. Lord Reginald verstand immer alles, was es zu verstehen gab. Er nickte.
»Eines verstehe ich nicht so ganz…«, sagte er, »Wie habt ihr es gefunden, wenn es doch gestohlen wurde. Habt ihr es vielleicht doch selbst von Eurem Huhn entwendet?« Vielleicht mochte das Ei nicht so wertvoll sein, doch das bedeutete nicht, dass er nicht noch ein Verbrechen aufklären konnte, auch wenn das Ei wieder aufgetaucht war.
»Sie hat es gerade erst gelegt, mein Bester.« Lord Brandon kicherte wie ein Schuljunge, drehte seinen Rollstuhl und fuhr fröhlich summend wieder zurück in Richtung seiner Behausung.
Für einen Moment schwiegen Lord Reginald und Lady Sophie.
»Hast du noch ein Bier?«, fragte sie dann mit noch besserer Laune.
»Nein«, antwortete er nur, drehte sich auf dem Absatz um und schloss die Tür seines Wohnwagens hinter sich. Was für ein miserabler Morgen.