Lesedauer 6 Minuten

»Und was ist dann passiert?«, fragte ich meinen Patienten, einen großgewachsenen, grimmig dreinblickenden Mann. Er verzog das Gesicht, welches mehr an eine Schnauze erinnerte; zu etwas, das vielleicht bei einem anderen als Lächeln durchgegangen wäre.
»Nun, ich bin ihr gefolgt.«, begann er zögernd, »Sie ging den langen Weg durch den Wald in Richtung Hügel, dort wo ihre Großmutter wohnte.« Er öffnete den Mund, wie um noch etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder. Ich lehnte mich in meinem Sessel leicht nach vorne und lächelte ihm aufmunternd zu.
»Nur zu, erzählen sie weiter. Wir sind hier ganz unter uns.« Mein Gegenüber begann an den Ärmeln seines Hemdes zu zupfen, als er stockend fortfuhr, »Sie lief den Weg lang und wie immer sang sie dabei. Ich weiß nicht was genau es war, aber ich wusste, dass heute der Tag war, an dem ich es tun musste.«
»Was war das für ein Gefühl.«, unterbrach ich ihn, »Versuchen Sie es zu beschreiben.«
Er wirkte nun noch verunsicherter, als vorher und ich konnte fast sehen, wie es in ihm begann zu arbeiten. Plötzlich stand er auf und begann ziellos im Raum hin und her zu laufen. Er wirkte wie Raubtier, das vor den Gitterstäben seines Geheges auf und ab ging.

Die Wache machte einen Schritt auf den Mann zu, mit einer Handbewegung bedeutete ich ihr jedoch nicht einzugreifen. Manchmal konnte es den Patienten helfen sich frei im Raum zu bewegen, gerade weil die Behandlungsräume größer als ihre eigenen waren. Er hielt am Fenster an und schaute hinüber zu zwei Vögeln, die auf einem Baum saßen. Mehrere Minuten stand er dort, bis er sich schließlich wieder setzte und mir direkt in die Augen sah.
»Es war, als würde die Sonne mir direkt ins Gesicht scheinen. Warm und wunderbar. Ich glaube so glücklich war ich noch nie.«
Etwas in seinem Blick beunruhigte mich, trotzdem lächelte ich und bedeutete ihm fortzufahren.
»Als ich sie da in ihrem roten Pulli habe laufen sehen, bin ich ihr hinterher. Sie ließ sich Zeit und genoss den Spaziergang, also war es ziemlich einfach ihr zu folgen. Nach einer Weile hörte sie auf zu singen. Vielleicht gefiel ihr das Lied nicht mehr, oder sie wollte einfach die Natur genießen. Auf jeden Fall hatte sie ihre Kopfhörer abgesetzt. Das war ärgerlich, wenn ich da einen Fehler gemacht hätte, hätte sie mich bemerkt.«, das Lächeln, welches nun auf seinen Lippen lag, war gar nicht mehr unsicher. Der Ausdruck, der nun auf seinem Gesicht lag, war eher eine Mischung aus Hunger und Gier. Ich kannte die Akten und wusste, wie es ausgehen würde und bei dem Gedanken daran, zog sich in mir alles zusammen. Ich verspürte den Drang mich zu übergeben, als die Tatortfotos vor meinem inneren Augen wieder auftauchten.
»Alles okay bei Ihnen, Doktor!« , seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
»Bestens. Erzählen Sie nur weiter, Neigel.«, entgegnete ich ihm und schölte mich innerlich einen Dummkopf, so unprofessionell zu sein. Neigel zuckte mit den Achseln und fuhr fort. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war verschwunden.
»Es muss eine halbe Stunde gewesen sein, nachdem ich sie zuerst gesehen habe, als sie mich bemerkte. Vielleicht war ich auf einen Ast im Unterholz getreten, vielleicht war es auch einfach nur ein unglücklicher Zufall, ich weiß es nicht mehr. Aber sie sah mich, so klar wie ich Sie jetzt vor mir sehe.«, ein kurzer Eindruck huschte über sein Gesicht. Nur für einen Moment, aber doch ganz klar erkennbar. Scham. Aber wovor? Vor seiner Tat? Wohl kaum, schließlich hatte er keinen Zweifel daran gelassen, wie stolz er darauf war, was er getan hatte. Mein Stift huschte ein paar Mal übers Klemmbrett, während mein Patient fortfuhr.

»Ich ging also auf sie zu. Was solls, dachte ich mir, dann hat sie dich halt gesehen, wird schon gut gehen. Ich fragte sie, was sie an einem so schönen Tag hier machte und schenkte ihr ein Lächeln. Sie wich ein paar Schritte zurück, schien ein wenig verunsichert zu sein. Ich verstehe so etwas. Manchmal habe ich diese Wirkung auf andere Menschen. Dennoch machte es mich wütend«
Er schaute, als erwartete er eine Antwort, doch ich bedeutete ihm nur wieder mit der Hand fortzufahren. Neigel runzelte zwar die Stirn, beließ es dann aber glücklicherweise dabei.
»Wissen Sie, es hatte etwas niedliches, wie sie verunsichert vor mir Stand. Wohl nach dem ersten Schockmoment meinte sie, dass sie zu ihrer Großmutter wollte, um ihr Einkäufe vorbeizubringen, die ihr Vater getätigt hatte. Natürlich wusste ich da schon lange, was ihr Ziel war. Es gibt nur einen Weg durch den Wald und ich habe sie schon oft beobachtet.«, bei seinem letzten Satz lächelte er selbstzufrieden.


Ich stand auf, ging zum Fenster und sah nun ebenfalls hinaus. Die Vögel die Neigel eben beobachtet hatte, waren weitergezogen und so wandte ich mich nach kurzer Zeit wieder dem Monster zu, dass mir nun wieder höflich und interessiert ins Gesicht lächelte.
»Draußen was interessantes gesehen?«, fragte er und ich bemerkte in seiner Stimme einen leicht beleidigten Unterton.
»Nicht wirklich.«, entgegnete ich ihm betont lässig, um ihm nicht noch mehr Anlass zu geben, von seiner Geschichte abzuweichen. Eigentlich hatte ich gehofft durch meine Nichtachtung dafür zu sorgen, dass er sich weiter in seine Geschichte stürzte, um wieder meine Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Nach einem kurzen Moment des schweigsamen Anstarrens, ging ich ruhig wieder zurück, hinter meinen Schreibtisch und setzte mich.
»Bitte Neigel, fahren Sie fort. Sie waren gerade dabei Ihr Zusammentreffen mit der jungen Dame zu beschreiben.«
»Genau. Da standen wir also. Ich schlug ihr vor Sie zu begleiten, schließlich war der Wald ja nicht sicher,«, wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht, »doch sie wollte nicht. Umso besser. In meinem Kopf war plötzlich eine Idee und ich ließ sie weiter gehen. Der Weg, den sie durch den Wald und dann auf den Hügel nahm, ist zwar schön, aber auch lang. Geht man einfach quer, ist man viel schneller. Ich war schon immer ein guter Läufer, also wartete ich, bis die Kleine außer Sicht war. Wahrscheinlich würde sie wieder Blumen für ihre Großmutter pflücken. Ich rannte los, rannte, bis ich das Haus sehen konnte.«

Die Wache an der Tür gähnte. Ich warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Schuldbewusst zuckte sie mit den Schultern.
»‘Tschuldigung«, grunzte sie nur.
»Macht doch nichts. Jeder ist mal müde.«, meinte Neigel zu dem Mann mittleren Alters mit ehrlichem Verständnis in der Stimme. Die Wache runzelte zwar die Stirn, sagte aber weiter nichts dazu. Wieder wanderte mein Blick zum Fenster und weiter nach draußen. Die Sonne stand nun schon deutlich tiefer. Bald ist es fünf und ich kann hier raus, dachte ich mir. Doch vorher wollte ich das noch beenden.
»Ich sah mich um, doch das Mädchen war nirgends zu sehen.«, seine Stimme hatte einen etwas schnelleren Ton angeschlagen. Es klang so, als ob er noch dringend irgendwo hinmüsse und deshalb das Gespräch schnell beenden wollte.
»Daher ging ich zur Tür und klopfte. Eine alte Frau machte auf. Ich sagte ihr, dass mir etwas bei ihr über den Zaun gefallen wäre und ob ich es kurz holen könne. Sie ließ mich ein, dann erschlug ich sie.«, Neigels Tonfall hatte sich in den letzten Sekunden verändert. Sein Vortrag war lustlos geworden. Ich konnte keine Spur der anfänglichen Euphorie mehr hören.

»Ich stopfte sie in einen Schrank und wartete. Sie können sich nicht vorstellen, wie gespannt ich war, was sie sagen würde mich hier zu sehen. Aber nicht so, das wäre ja zu einfach.«, seine Stimme gewann nun wieder deutlich an Aufregung. Ich machte mir ein paar Notizen. Das gleiche hatten schon andere meiner Profession in die Akten eingetragen. Sobald er sich mit seinen Geschichten vom Objekt seiner Begierde entfernt, verliert er jegliche Lust. Doch wenn er wieder einen Weg findet, um auch sie zu sprechen zu kommen, ist er wieder ganz bei der Sache.
»Es sollte ja ein Spaß sein. Ich holte mir also Nachthemd und Haube aus dem Schrank der Alten und legte mich dann in ihr Bett. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich kam und als ich hörte, wie ihr Schlüssel sich im Schloss drehte, konnte ich kaum mehr an mich halten. Ein Gefühl der reinen Freude überkam mich und ich wollte nur noch lachen.«, bei diesen Worten seufzte er genüsslich.

Der Punkt, wo ich mir selbst eingeredet hatte, Neigel eventuell noch helfen zu können war längst überschritten. Das Einzige was ich jetzt noch gegenüber ihm Empfand war reiner Ekel. Wie durch Watte hörte ich, dass Neigel berichtete, wie das arme Mädchen hereinkam, sich über die Großmutter wunderte und entsetzt war als er sie aus dem Bett heraus ansprang.
Dann tötete sie. Zerstückelte ihre Leiche.
Ich weiß noch, wie ich dachte, solche Monster sollte es nicht mal in Märchen geben, nicht einmal dann, wenn der Held sie am Ende besiegt. Ich war froh, als er endlich geendet hatte und mich nun mit einem von Lust erfüllten Grinsen anstarrte.

»Unsere Zeit ist um.«, sagte ich, ohne ihn anzusehen.
»Bis nächste Woche.«, war seine Antwort.
Als ich geendet hatte rutschte ich auf meinem Stuhl wieder zurück. Während meiner Erzählung war ich immer weiter nach vorne gerutscht, bis ich nur noch auf der Kante saß. Mir gegenüber auf der anderen Seite, auf der ich so viele Jahre gesessen hatte, hatte ein Mann platz genommen und musterte mich.
»Nun, Dr. Jäger«, begann er und lächelte mild, »Danke, dass sie mit mir diese Geschichte ihrer ersten Begegnung mit Neigel Wolf geteilt haben. Doch wüsste ich jetzt gerne auf eine andere Begebenheit zu sprechen kommen. Bitte erzählen Sie mir alles über den Tag, an dem Sie beschlossen Herrn Wolf zu töten.«